Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
Flut mit schaumigen Wellen drängte, der tiefe Kanal zwischen dieser Seite des Flusses und der nicht besonders reizvollen Häuseransammlung von Milbay. Die Vögel, die unten im Matsch wateten, stießen hilflose Rufe aus, und ein Seetaucher mit schneeweißen Flügeln kam aus dem blauen Himmel heruntergeflogen. Er gab einen rauen Schrei von sich, wie ein Aufseher, der seine Arbeiter zurechtweist. Das gesamte Panorama sang und jubelte und vibrierte vor Leben. Das Haus war zwar verfallen und alt, aber es lebte, genau wie der Strand lebte, wo die Kormorane auf den schwarzen Felsen hockten, und wie dieser Hügel lebte, mit seinem samtweichen Kamm über den zerklüfteten und ausgehöhlten Abhängen, wie die fruchtbare Wiese lebte und der schimmernde Buchenhain. Und sogar die alten Verwaltungsgebäude und die Schlafbaracken des Trainingslagers. Und ich – die Welt hatte mir ein Geschenk gemacht, hatte für mich eine neue Verbindung zu ihrem Reichtum aufgetan. Auch ich sang und jubelte innerlich. Auch ich lebte.
Der Anrufbeantworter in der Küchenecke in Kilbride blinkte.
»Wie geht’s euch da drüben, Rosie? Hier ist Min. Ich wüsste gern, ob Bell meine Stimme erkennt – hallo, Bell!«
Min schrie, als würde die Lautstärke bewirken, dass man sie auf der anderen Seite des Atlantiks besser verstand.
»Gegenüber vom Harmony Hotel lebt eine obdachlose Frau, und man hat ihr eine Wohnung angeboten, aber sie will die Wohnung gar nicht, weil sie einen Teil ihrer Sozialhilfe als Miete zahlen müsste, deshalb haben Luz und ich die Wohnung übernommen, und wir geben der Frau jede Woche fünfundzwanzig Dollar ab – so viel bekomme ich locker zusammen, wenn ich ein paar Stunden in der Küche arbeite. Es ist leicht verdientes Geld, nur muss ich meine Haare unter so eine weiße Mütze stopfen, wie ein Krankenpfleger, und ich muss den Bus nehmen und dann die U-Bahn. Also, jedenfalls kannst du Luz immer anrufen, außer natürlich, wenn wir bei der Arbeit sind, wir gehen um fünf Uhr nachmittags los und arbeiten neun Stunden, mit Pause. Ich habe bei Macy’s im Schlussverkauf einen Mantel gesehen, der dir unter Garantie erstklassig stehen würde, Rosaleen. Ich kaufe ihn am Samstag, wenn er nicht schon weg ist, ich komme nämlich auf dem Weg zur Chorprobe bei Macy’s vorbei. Die ist bei Our Lady of Guadelupe, ich habe schon oft von ihr gehört, von der Schwarzen Madonna. Also, dann tschüss für heute. Mir geht es blendend, aber das Problem in dem Hostel war, dass dauernd was geklaut wurde. Luz’ kleiner Waschbeutel mit ihren ganzen Kosmetiksachen ist gleich verschwunden, während sie unter der Dusche stand. Da waren wir noch keine drei Stunden da! Ich rufe dich morgen wieder an, wenn ich so eine Karte mit Nummern habe, wie die von Luz, mit der sie immer in Mexiko anruft. Tschüss! Tschüss, Bell, und sei eine brave Katze! Sei lieb zu Rosie!«
Ich ging nach draußen in den Garten und rief nach Bell. Sie setzte sich auf eine alte Zeitung, und ich bürstete sie, während wir uns Mins Nachricht gemeinsam noch einmal anhörten. Bell reagierte nicht auf ihren Namen, aber vielleicht verbarg sie ihre Gefühle ja auch.
Ich hingegen reagierte. Ich ging hinauf ins Bett und war richtig glücklich.
Ich hatte ein Zauberhaus gefunden, und es gehörte meiner Familie. Es gab mir meine Familie.
Und Min schien mich zu vermissen, denn nur in sentimentalen Momenten nannte sie mich Rosaleen.
12
I ch konnte es kaum erwarten, bis Min wieder anrief.
Sie hatte ja immer nur widerstrebend über Stoneytown gesprochen und auch dann meistens negativ. Wie sollte ich ihr das Haus beschreiben, dass sie zumindest offen dafür blieb? Wie konnte ich ihr vermitteln, dass meiner Meinung nach alles dort eine magische Kraft ausstrahlte? Die Gespräche über das Haus wurden vielleicht die wichtigste Auseinandersetzung, die es je zwischen uns gegeben hatte.
Ich ging nach oben, um mein Bett zu machen. Wie ärmlich es war, wie bescheiden. Ich musste unbedingt ein paar Kissen aus Samt und Seide kaufen. Sonst sah es hier immer noch aus wie im Zimmer eines jungen Mädchens, das ständig nur Bücher las und kaum etwas verdiente. Auf dem Ehrenregal, gleich über dem Bett, standen die Penguin-Bände von Joyce, alle voller Eselsohren, weil ich sie im Kaufhaus Pillar unter dem Ladentisch gelesen hatte, als ich in der Abteilung für irische Souvenirs und Geschenke arbeitete. Ulysses hatte ich nur zur Hälfte geschafft, weil ich Stephen Dedalus nicht ausstehen konnte.
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