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Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie

Titel: Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuala O'Faolain
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gegenseitig je als Frau wahrgenommen. Min hatte die Hälfte ihres Lebens in der Nähe eines Mannes verbracht – erst bei ihrem Vater und dann bei meinem Vater -, und höchstwahrscheinlich hatte es für beide Männer nie eine Rolle gespielt, dass Min eine Frau war. Ich hatte instinktiv gewusst, dass ich mich nicht an sie wenden konnte, als ich meine erste Blutung bekam. Aber ich war sowieso dermaßen schockiert, dass es mir die Sprache verschlug. Ich ging hinüber zu Reeny und wartete, bis Monty weggegangen war, dann fing ich an zu weinen und deutete auf meinen Bauch, weil ich Schmerzen hatte. Reeny musste anschließend zu Min gegangen sein, denn von dem Tag an fand ich alle vier Wochen im vorderen Fach meiner Schultasche eine halbe Krone, bis ich mein erstes Gehalt vom Kaufhaus Pillar bekam. Aber wir sprachen nie darüber.
    Auch als ich schon längst zu Demonstrationen und Protestveranstaltungen über dieses oder jenes Frauenthema ging, redete ich mit meiner eigenen Tante nie von Frau zu Frau. Wir unterhielten uns nicht darüber, ob wir Kinder wollten oder nicht, und erst recht nicht darüber, ob wir mit jemandem schlafen wollten oder nicht. Am ehesten konnte man sagen, dass Min mir in den letzten Jahren indirekt ihr Inneres gezeigt hatte, denn der Alkohol und das Verstummen waren sicher ihre Art, Gefühle wie Wut wegzudrücken.
    Ich ging wieder nach unten, weg vom Bett, weg von den Spinnweben. Dabei versuchte ich, die Füße so zu setzen, wie Min es – in meiner Vorstellung – als Mädchen getan hatte. Und ich stellte mir die etwas größeren Fußspuren meiner Mutter vor, umstrahlt wie von einem Heiligenschein.
    Im Lauf meines Lebens muss ich wohl in Hunderten von Häusern gewesen sein, dachte ich. In mehr als zehn habe ich gewohnt. Aber das hier ist das Haus, das auf mich gewartet hat.

    Ich musste nach Dublin zurück. Mein Handy hatte hier draußen keinen Empfang, und ich wollte unbedingt herausfinden, ob es eine Krankenversicherung gab, die eine fast siebzigjährige Frau in den USA absicherte. Aber vorher ging ich noch einmal in den Garten hinter dem Haus. Es war wunderschön dort. Die Steinmauer war so hoch, dass die Brise vom Meer über sie hinwegfegte – man spürte zwar die belebende Nähe des Wassers, aber gleichzeitig war das Meer machtlos gegen die Wärme der Steinplatten und gegen das Gras, das Unkraut, das alte Holz des Scheunentors und die verwitterten, getünchten Steinmauern der kleinen Schuppen. In dem winzigen Verschlag gleich neben der Hintertür befand sich ein Sitzbrett mit einem Loch in der Mitte. Bestimmt hatte früher ein Eimer daruntergestanden. In der Rückwand, also in Richtung Meer, war ein kleines Fenster. Das Glas hatte durch das Alter und die Witterung Sprünge bekommen. Ich schob den rostigen Riegel beiseite, öffnete das Fensterchen, und schon hörte man die Wellen rauschen.
    Als ich mich zum Pinkeln ins Gras kauerte, wich das Wellenrauschen wieder zurück, es verschwand hinter den wuchernden Hecken und der dicken Mauer. Was für eine herrlich sinnliche Erfahrung, auf der Haut meiner Oberschenkel und meiner Pobacken die Sonne zu spüren, während ich mit halb geschlossenen Augen den strahlend blauen Himmel, das grüne Gras und die mit Flechten bewachsenen Steine auf mich wirken ließ.
    Zum Schluss unternahm ich noch einen letzten Versuch, die Planken zu entfernen, die auf der Brunneneinfassung lagen. Ich war jetzt wesentlich ruhiger als vorher. Geduldig drückte ich sie über den Rand der niedrigen, runden Umgrenzung – bis sie schließlich herunterplumpsten. Ich ging die zwei Steinstufen hinunter und spähte hinein. Mir wurde fast schwindelig vor Glück. Ganz sanft sprudelte hier Wasser aus irgendeiner Quelle, und es war so glasklar, dass ich jeden einzelnen Pflasterstein der wunderschön gemauerten Brunnenwand sehen konnte. Lebendiges
Wasser. Gutes Wasser. Es verlieh dem Haus eine Seele, diesem Haus mit seinen Granitblöcken, seinen Steindachplatten, seinen Stürzen, Fensterrahmen und Türen aus verwittertem Holz. Ungerufen kam mir der Satz »Er ist nicht tot, sondern er schläft nur« in den Sinn.
    Dann kletterte ich wieder über die Anhöhe, zurück zu meinem Auto. Am höchsten Punkt blieb ich einen Moment in der milden Nachmittagssonne stehen, begleitet vom süßen Gesang der Lerchen, und schaute hinunter: das Dach des Hauses, der schmale Strand links davon, der zu dem beschädigten Hafenwall führte, die Steine, der schimmernde Schlamm der Flussmündung, in die jetzt die

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