Dunkle Tage
und Schnürschuhe. Selbst das Einstecktuch in der Brusttasche fehlte nicht. Er begrüßte Hendrik förmlich mit Handschlag, wie immer. Schon als Kind hatte Gregor eiserne Selbstdisziplin geübt, um seine Wildheit in den Griff zu bekommen, und seit er von der Front zurück war, hatte sein steifes Verhalten womöglich noch zugenommen.
Hendrik lehnte dankend ab, als sein Bruder ihm ein Glas Wein anbot. „Ich muss mich nachher noch an den Schreibtisch setzen, und du weißt ja: Wenn ich nur einen Schluck Alkohol trinke, bin ich anschließend zu nichts mehr zu gebrauchen.“
Gregor schenkte sich selbst ein. „Minister Haenisch hat den Senatsbeschluss gegen Nicolai aufgehoben, habe ich gelesen.“
„Wird auch nicht viel nützen. Die ganze Universität ist reaktionär verseucht.“
„Du übertreibst.“
„Glaubst du? Du hättest die antisemitischen Flugblätter sehen sollen, die heute verteilt wurden.“ Hendrik ließ sich auf einem der unbequemen Stühle nieder. „Wenn man bedenkt, dass diese Universität unter philosophischer Schirmherrschaft gegründet wurde, könnte man heulen! Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Fichte, Hegel, Schelling – sie alle haben ihre geistigen Fingerabdrücke hinterlassen. Und heutzutage? Ist nichts mehr davon übrig, weil ihre kleingeistigen Nachfolger es schon für eine denkwürdige intellektuelle Leistung halten, die Jahre bis zu ihrer Pensionierung zu zählen.“
„Du solltest dir das nicht so zu Herzen nehmen. Solche Leute wird es immer geben.“
„Es macht mich wütend, wenn jemand das Ringen der besten Denker um Wahrheit, um Gerechtigkeit, um Erkenntnis mit Füßen tritt.“ Er bemerkte den skeptischen Gesichtsausdruck seines Bruders. „Du hältst Philosophie immer noch für weltfremde Spinnerei, habe ich Recht?“
„Wenn du mich so direkt fragst …“
„Schau dich doch um: Die Wissenschaft macht jeden Tag Fortschritte, die Waffentechnik wird ständig verbessert – aber die Ethik hält damit nicht Schritt. Wir können heutzutage aus Zeppelinen Bomben auf die Zivilbevölkerung werfen, aber wir sind hilflos, wenn es gilt, eine moralische Entscheidung jenseits von Gesinnungsplattitüden zu treffen. Es geht in der Philosophie nicht darum, mit heiligem Erschauern Klassiker nachzubeten, sondern darum, selbstständig zu denken. Das, was andere vor einem gedacht haben, kann einem dabei Hilfe, Anregung oder Reiz zum Widerspruch sein, aber der eigentliche Sinn der Philosophie besteht darin, zum selbstständigen Denken herauszufordern.“
Gregor beschäftigte sich ausgiebig mit seinem Weinglas.
„Jaja, verstehe schon! Ich habe mich mal wieder hinreißen lassen. Na schön, reden wir von den Dingen, derentwegen wir hier sind. Ich habe euren Fahndungsaufruf in der Abendausgabe der Tageszeitungen gelesen.“
„Über den die Familie des Toten sehr ungehalten ist. Ich hatte bereits einen Anruf von Hermann Unger, der mit deutlichen Worten nicht gespart hat. Jede Öffentlichkeit kommt ihm natürlich ungelegen. Aber ich stehe unter Erfolgsdruck und habe zudem nicht genug Mitarbeiter.“
„Bekommst du keine Unterstützung vom zuständigen Revier?“
„Wenn du wüsstest, wie sehr mir dieses Kompetenzgerangel auf die Nerven geht! Ich hoffe inständig, dass sich das bessert, wenn erst die Zusammenlegung zum vereinigten Groß-Berlin abgeschlossen ist.“
„Glaubst du, dass sich da viel ändert?“
„Reformen sind unumgänglich. Die Zuständigkeit des Polizeipräsidiums muss bis an die Grenzen Groß-Berlins ausgedehnt werden, sonst hat jeder Verbrecher, der den Kiez wechselt, leichtes Spiel. Und die Bezirke der Ortsdienststellen müssen sich mit den Gerichts- und Postbezirken decken, damit dieses Durcheinander endlich aufhört. Das werden auch die Verantwortlichen begreifen.“
„Sag mal, hast du eigentlich schon ein Ergebnis der Obduktion?“ Hendrik bemühte sich, seine Frage beiläufig klingen zu lassen.
„Ein vorläufiges. Dr. Pauly hat seine erste Schätzung bestätigt: Der Tod trat zwischen acht und zehn Uhr abends ein. Max Unger erhielt dreiundzwanzig Messerstiche in Brust und Bauch, von denen sieben tödlich verliefen. Die Stöße wurden mit gewaltiger Wucht geführt, der Mörder oder die Mörderin muss gerast haben vor Wut.“
„Bei einem solchen Kraftakt ist es doch sicher abwegig anzunehmen, dass eine Frau die Tat begangen hat?“
„Ich schließe vorerst nichts aus. Käte Unger, beispielsweise, ist groß und kräftig. In einem Anfall von Raserei käme sie
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