Dunkle Tage
einem schmutzigen Verband umwickelt war.
„Ick han mer de Hand jequetsch, uff de Arbeet“, erwiderte Emil Voigt in einem kuriosen Dialektgemisch. Ein gebürtiger Rheinländer, der dabei war, sich in Berlin zu akklimatisieren.
„Sie sollten das untersuchen lassen.“
Der Mann zuckte die Achseln; es war klar, dass er nichts dergleichen tun würde. Ein Arzt kostete Geld.
„Können Sie die Angaben der Broschecks bestätigen?“
„Ick wor e paar Dache nit do, ick sin eesch hück Morje zoröckjekumme.“
„Und du?“, wollte Gregor von Anton wissen.
Das Gesicht des Jungen wurde verschlossen. „Es stimmt, was meine Eltern jesacht ham“, erklärte er. Hendrik war sicher, dass er log.
„Na schön, ich denke, das war vorerst alles.“ Gregor ging scheinbar unschlüssig im Raum hin und her, während er sich ein Paar Handschuhe überstreifte, und kam wie zufällig zwischen den Broschecks zu stehen. „Eine Frage habe ich noch. Kennen Sie diesen Mann?“ Er zog eine Fotografie aus seiner Tasche und hielt sie dem Arbeiter hin.
Der warf einen kurzen Blick darauf und schüttelte den Kopf. „Nie gesehen.“
Als Gregor das Foto zurücknahm, entfiel es seiner Hand. Er bückte sich, um es aufzuheben, und von seinem Platz aus konnte Hendrik sehen, wie er es heimlich gegen ein anderes austauschte. Dieses reichte er Frau Broscheck, die ebenfalls verneinend mit den Schultern zuckte.
„Vermutlich werden wir noch einmal wiederkommen“, verabschiedete sich Gregor und gab sich Mühe, es nicht wie eine Drohung klingen zu lassen.
Hendrik war froh, als sie endlich draußen und der deprimierenden Atmosphäre der Wohnung entronnen waren. „Wie ich sehe, hast du weiter an deiner Fingerfertigkeit geübt, seit du uns zu Kindergeburtstagen mit Zaubertricks beeindruckt hast.“
„Du hast es also bemerkt?“ Gregor blinzelte vergnügt. „Nun ja, ich muss gestehen, dass ich mir von Finger-Ede noch einen oder zwei Tricks habe beibringen lassen. Man weiß nie, wo einem solche Fähigkeiten nützen können.“
„Ich wusste gar nicht, dass du schon einen Verdächtigen hast.“
„Habe ich auch nicht.“
„Und wer ist die Person auf der Fotografie?“
„Bei uns im Revier nennen sie ihn ‚Gennats bester Mann‘. Eine Fotomontage, die Simon mal zum Spaß aus den Gesichtern verschiedener Kriminalbeamter hergestellt hat. Sieht echt aus, findest du nicht?“
„Verrätst du mir den Zweck des Ganzen?“
„Hier bietet sich eine einmalige Gelegenheit für dich, deine deduktiven Fähigkeiten unter Beweis zu stellen“, erwiderte Gregor, während er vorsichtig die Fotos aus zwei verschiedenen Taschen seiner Jacke zog, sorgfältig in zwei Papiertüten verstaute und diese beschriftete.
Hendrik schnipste. „Fingerabdrücke!“, begriff er.
6
Eigentlich passte Hendrik das abendliche Treffen mit seinem Bruder überhaupt nicht ins Konzept, weil er dringend seine nächste Vorlesung vorbereiten musste. Morgen früh stand wieder Ethik und Moralwissenschaft auf dem Programm, und er hatte vor, ein paar Dinge zur Sprache zu bringen, die schon lange in ihm gärten. Andererseits interessierte ihn natürlich, ob sich im Fall Unger etwas tat.
Gregors Wohnung war spartanisch eingerichtet. Seine Vorstellung von Raumgestaltung erschöpfte sich darin, den drei Jahre alten Wasserfleck an der Decke des Wohnzimmers nicht zu übertünchen. Hin und wieder unternahm er einen Anlauf, Pflanzen zu züchten, die ihm regelmäßig binnen Wochen eingingen. Selbst die beiden anspruchslosen Kakteen auf dem Fensterbrett machten einen erbarmungswürdigen Eindruck. Statt bequemer Sessel gab es nur zweckmäßige Stühle, der Schreibtisch war mit Akten bedeckt und die Regale mit kriminalistischen Monografien und naturwissenschaftlichen Abhandlungen: Forensische Medizin, Spektralanalyse, Ballistik, Daktyloskopie.
Hendrik kannte das Faible seines Bruders für die Naturwissenschaft, besonders für Fingerabdrücke. Gregor war siebzehn gewesen, als die Daktyloskopie in Deutschland eingeführt wurde und die Bertillonage verdrängte, das unzulängliche System der Identifizierung durch Vergleichen von Körpermaßen. Damals hatte er angefangen, sich jede verfügbare Information über neuartige Untersuchungsmethoden zu besorgen.
Ob bei der Arbeit oder in der Freizeit, Gregor war stets korrekt gekleidet. Unter seiner grauen Weste trug er ein weißes Baumwollhemd mit knopfbesetztem Kragen und einen blauen Binder, außerdem eine graue Flanellhose mit messerscharfen Bügelfalten
Weitere Kostenlose Bücher