Dunkle Tage
der Kollektivschuld oder durch den Versuch der Gedankenkontrolle zu umschiffen? Weil es der einzige Bereich ist, der Konsequenzen fordert.“
Er entdeckte Leander Sebald im Auditorium und ließ ihn nicht aus den Augen, während er, einer Eingebung folgend, vom ursprünglichen Konzept seines Vortrages abwich und improvisierte. „Angenommen Sie fühlen sich einem Menschen in seinen politischen Ideen verbunden und wollen ihm gegenüber loyal sein. Loyalität ist eine ehrenwerte Eigenschaft. Aber wenn dieser Mensch nun ein Mörder ist – wiegen seine Gedanken und Gefühle seine verbrecherischen Taten auf? Oder dient Ihnen eine solche Behauptung nicht eher als Ausrede, um sich nicht Ihrem Gewissen stellen zu müssen?“
Hendrik blieb vor den Brüdern Sebald stehen. „Es verlangt Mut, Mut und Rückgrat, um gegen den Geist der Zeit aufzustehen, um ‚Nein!‘ zu sagen, wenn all unsere Freunde und Verwandte, alle, die wir lieben, denen wir uns zugehörig fühlen, ‚Ja!‘ rufen.“ Leander hing mit furchtsamem Blick an seinen Lippen. Hendrik wandte sich ab und kehrte zu seinem ursprünglichen Konzept zurück, um die aufnahmebereite Stimmung des Studenten nicht überzustrapazieren.
„Ich entlaste Sie hiermit von der Verantwortung für Ihre Gefühle und Gedanken. Und bürde Ihnen dafür die volle, absolute und uneingeschränkte Verantwortung für Ihre Taten auf. Es sind unsere Taten, die Leid über die Menschheit bringen, nicht unsere Gedanken. In dem Moment, wo wir uns keine Sorgen mehr darüber machen, wie andere unsere Gedanken bewerten, können wir unsere Kräfte darauf verwenden, weniger gedankenlos mit unseren Taten umzugehen. In dem Moment, wo wir aufhören, darauf zu bestehen, dass der Nachbar dasselbe zu denken hat wie wir, können wir ihn nach seinen Taten beurteilen.“
Hendrik hatte die erste Bankreihe erreicht und überblickte wieder den gesamten Saal. Es war ihm gelungen, die Zuhörer durch seinen leidenschaftlichen Vortrag in den Bann zu ziehen. „Wenn ich sage, Sie sind für Ihre Gedanken nur begrenzt verantwortlich, meine ich nicht, dass es keine Rolle spielt, was Sie denken. Aber ob Sie sich willig jenen Gedanken überlassen, die für Sie am bequemsten sind, oder die Anstrengung auf sich nehmen, Ihren Motiven auf den Grund zu gehen – auch das ist eine aktive Tat.“
Der seelenvolle Blick einer dunkeläugigen Studentin verwirrte Hendrik eine Sekunde lang, ehe es ihm gelang, sich wieder auf den Vortrag zu konzentrieren. „Abaelard sagt, für die Beurteilung einer Handlung sei die Absicht des Handelnden entscheidend und nicht das Ergebnis. An diesem Satz ist sicher viel Wahres. Aber letzten Endes ist es leicht, Argumente zu finden, die eine verwerfliche Handlung moralisch legitimieren. Entschuldigungen auf der Basis von Gesinnung werden Ihnen heutzutage an jeder Straßenecke feilgeboten. Der Zweck heiligt jedoch keineswegs die Mittel, zumindest enthebt er niemanden der Verantwortung dafür.“
Einzelne Unmutsgesten wurden sichtbar, er konnte sehen, dass einige von denen, die zu ahnen begannen, worauf sein Vortrag hinauslief, sich weigerten, ihm zu folgen.
„Eine ungerechte Gesellschaft, die die Armen zugunsten der Reichen ausbeutet, behindert Sie in Ihrer Entwicklung und enthält Ihnen Chancen im Leben vor? Sie haben meine volle moralische Unterstützung, dagegen anzukämpfen. Aber es entschuldigt nicht eine einzige Ungerechtigkeit, die Sie selbst begehen. Ihre Eltern haben Sie misshandelt, als Sie ein wehrloses Kind waren? Mein aufrichtiges Mitgefühl ist Ihnen sicher. Aber es entschuldigt keineswegs, wenn Sie dasselbe Ihrem eigenen Kind antun. Das ist der Unterschied zwischen Erklärung und Entschuldigung: Viele unbegreifliche Handlungen werden nachvollziehbar, sobald Sie den persönlichen und sozialen Hintergrund des Handelnden kennen. Aber dieser Hintergrund ist kein Freibrief.“
Er legte eine Kunstpause ein, in der er sich bemühte, durch Blickkontakt die Aufmerksamkeit jedes Einzelnen zu bekommen.
„Sind wir lediglich Marionetten des Schicksals? Bedeuten Darwins Evolutions- oder Freuds Triebtheorien, dass wir nicht verantwortlich sind für das, was wir tun? Ich halte Ihnen ein lautes und eindeutiges ,Nein!‘ entgegen. Determinismus ist nur ein anderes Wort für Feigheit vor der Verantwortung. Sie, einzig und allein Sie sind Ihres Glückes Schmied. Ich will nicht leugnen, dass die Ausgangsbedingungen für manche schwieriger sind als für andere. Aber nur Sie tragen die Verantwortung
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