Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkle Tage

Dunkle Tage

Titel: Dunkle Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
Vom Netzwerk:
für die Weichenstellungen in Ihrem Leben. Jede Ausgangssituation, auch die schwerste, bietet Wahlmöglichkeiten. Und wenn Sie sich für die einfachste entscheiden, für den Weg des geringsten Widerstands oder dafür, die Schuld an einem verpfuschten Leben jemand anderem aufzubürden, dann ist das einzig und allein Ihre Entscheidung.“
    Hinten begannen zwei Studenten miteinander zu tuscheln. Hendrik ignorierte es und fing an, entlang der ersten Bankreihe auf und ab zu gehen. Er hinkte, das Erbe einer Schussverletzung aus dem Krieg, das er normalerweise im Griff hatte. Nur wenn er aufgewühlt war, verlor er die Kontrolle über seine Behinderung. Es frustrierte ihn jedes Mal, dass dieses verräterische Zeichen seinen inneren Zustand bloßlegte.
    „Es ist bei uns üblich, dem politischen Gegner Gesinnungslosigkeit vorzuwerfen. Wir ereifern uns darüber, dem anderen verabscheuungswürdige Gedanken zu unterstellen, weil wir glauben, moralischer Adel würde jedes eigene Verbrechen entschuldigen. Jede Grausamkeit, jede Menschenverachtung wird heutzutage legitimiert durch aufrechte Gesinnung.
    Auch das Gehorsamsprinzip dient dazu, Verantwortlichkeiten zu verschleiern. Ist ein Soldat unschuldig an den Toten, die er zurücklässt, weil ihm seine Taten befohlen wurden? Wenn Sie das glauben, sind Sie hier falsch. Es gibt keine Instanz über Ihrem Gewissen. Persönliche Verantwortung lässt sich nicht delegieren, weder in den eigenen vier Wänden noch auf dem Schlachtfeld. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen , sagt Kant, wie Sie sich aus unserer letzten Stunde erinnern werden.“
    Unruhe machte sich breit. Die Studenten rutschten unbehaglich auf ihren Stühlen, mittlerweile flüsterten mehr als nur zwei von ihnen miteinander.
    „Heute jammern wir über die ungerechten Bedingungen des Versailler Vertrages, ohne auch nur die Spur eines Gedankens daran zu verschwenden, welche Gräuel, welche Verbrechen wir in Belgien und Frankreich begangen haben. Selbstverständlich sind die Friedensbedingungen hart und von Revanchismus geprägt! Aber wir ernten nur, was wir gesät haben. Wie kleine Kinder weigern wir uns, die Konsequenzen zu tragen – stattdessen tragen wir ja die rechte Gesinnung.“
    Hendrik bemerkte, dass seine normalerweise wohlklingende Stimme zu einem misstönenden Krächzen geriet, aber er konnte nichts dagegen tun; zu viel unterdrückte Wut, zu lange Angestautes brach sich in seinen Worten Bahn. „Wir haben einen Krieg verloren, aber schuld daran sind natürlich die Kommunisten, die Juden, die Korruption – alles andere, nur nicht die Armeeführung! Generäle, die nicht das Rückgrat besitzen, eigenes Versagen auf dem Schlachtfeld einzugestehen, die bis zuletzt bereit waren, Hunderttausende in sinnlosen Schlachten zu opfern, nur um nicht ihrer eigenen Unfähigkeit ins Gesicht blicken zu müssen, entwerfen fantasievolle Legenden um Dolchstöße, die ihnen angeblich in den Rücken gerammt worden sind –“
    Weiter kam er nicht, weil ein Tumult ohnegleichen losbrach. Überall sprangen Studenten auf und machten sich mit wütendem Geschrei Luft, Stühle wurden umgeworfen, Hefte, Bücher, Stifte flogen durch die Gegend. Jemand brüllte: „Bolschewist!“
    Hendrik sah dem Treiben reglos zu und machte eine Geste, die besagte: Sehen Sie?
    Ludwig Sebald verschaffte sich Gehör. „Ausgerechnet Sie wollen uns Lehren über den Krieg erteilen? Sie, der Sie sich bei der erstbesten Gelegenheit vom Schlachtfeld verdrückt haben? Sie sind nichts als ein vaterlandsloser Geselle, aus dem die Feigheit vor dem Feind spricht!“
    „Ist das der größte Vorwurf, den Sie mir machen können? Ich kann Ihnen einen ungleich größeren machen: Aus Ihnen spricht die Feigheit vor der eigenen Verantwortung!“
    Hände griffen nach ihm, stießen ihn, rissen an seinem Hemd. Hendrik fühlte sich hochgehoben und durch die Luft gewirbelt. Während um ihn herum das Chaos tobte, nahm er seine Umgebung wie aus dem Auge eines Sturms heraus wahr. Leander Sebald beteiligte sich nicht an dem gewalttätigen Protest. War das ein Zeichen dafür, dass er zu ihm durchgedrungen war?
    Jäher Schmerz jagte durch seinen Körper, als er gegen eine Wand prallte. Gegenstände prasselten auf ihn nieder, dann verließen die Studenten krakeelend den Raum.
    Mühsam rappelte Hendrik sich auf, betastete seine Rippen, fand alles in Ordnung und machte sich daran, das Durcheinander um sich herum aufzuräumen. Er

Weitere Kostenlose Bücher