Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkle Tage

Dunkle Tage

Titel: Dunkle Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
Vom Netzwerk:
wahr?“
    Natürlich war Hendrik klar, wer gemeint war. Er hätte gern eine tröstliche Antwort gegeben, aber er wollte dem Jungen keine falschen Hoffnungen machen. „Das Haus gehört nun seinem Bruder. Ich weiß nicht, ob sich für euch dadurch etwas bessert.“
    „Jehört dem dann auch der Schuldschein?“
    Es brauchte vielleicht eine Zehntelsekunde, bis der Adrenalinstoß Hendrik in einen Zustand der Alarmbereitschaft versetzte. Schuldschein? Gregor hatte keinen gefunden, da war er sicher! „Woher weißt du davon? Hast du ihn gesehen?“
    „Ich hab’ jehört, wie meine Eltern darüber jeredet ham. Sie woll’n nich’, dass wer davon weiß.“
    Antons scheinbare Gleichgültigkeit mochte manchen über seine Wachheit täuschen, aber Hendrik hatte keinen Zweifel, dass der Junge mehr mitbekam, als die Erwachsenen in seiner Umgebung glaubten. Wie lange würde es dauern, bis dieses Potenzial unter körperlicher Erschöpfung und mangelnder geistiger Herausforderung verkümmert war?
    Jedenfalls durfte er nicht denselben Fehler begehen und den Jungen unterschätzen, also keine weiteren Fragen zum Schuldschein! „Er wird wie alles weitervererbt“, sagte Hendrik stattdessen.
    Wie sollte er jetzt vorgehen? Durch die anderen Kinder wusste er nun, dass Anton gestern gelogen hatte, als er das Alibi seiner Eltern bestätigte. Sollte er ihn dieser Lüge überführen? Nein, es war das natürliche Bedürfnis eines Kindes, seine Eltern zu schützen. Hendrik beschloss, es dabei bewenden zu lassen.
    Anton überraschte ihn mit einer Frage, über die er offensichtlich schon eine ganze Weile nachgrübelte. „Was is’ Philosophie?“
    „Etwas, das noch spannender ist als ein Krimi und dabei ganz ähnlich. Es ist der Versuch, Antworten zu finden. Antworten auf Fragen wie: Woher kommen wir, warum sind wir hier, wohin gehen wir? Philosophie ist der Wunsch, die eigene Position zu bestimmen und das Durcheinander im Kopf und in der Welt zu ordnen.“
    Antons Frage brachte etwas in Hendrik an die Oberfläche, das er bereits verloren geglaubt hatte. Die Erinnerung, wie es gewesen war, als er mit 14 zum ersten Mal ein Buch mit Texten griechischer Philosophen in den Händen gehalten hatte. Damals war er mit seinen fortwährenden Fragen überall angeeckt. Seine Mitschüler lachten ihn aus, wenn er wieder einmal ein Problem sah, wo andere es vorzogen, den vorgezeichneten Weg zu gehen. Wat machste dir’n Kopp?, hieß es. Und da gab es plötzlich Menschen, die nicht nur mit großer Ernsthaftigkeit dieselben Fragen stellten, sondern bereit waren, Anfeindungen und Nachteile dafür in Kauf zu nehmen, dass sie ihre Finger auf Wunden legten, die jedermann zu ignorieren bemüht war.
    „Wie wird man Philosoph?“
    „Arthur Schopenhauer – das ist einer – hat gesagt: Was macht den Philosophen? Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu behalten. Jeder Mensch, der sich mit wachen Augen umsieht, ist ein Philosoph. Jeder, der nichts einfach hinnimmt, sondern staunen kann und die Welt, wie sie ist, in Frage stellt, hat schon den ersten Schritt zur Philosophie getan.“
    Verlegen rieb sich Anton die Nase. „Is’ denn eine andere Welt möglich?“, fragte er.
11
    Mitten im Satz hielt Hendrik inne und starrte geistesabwesend auf das Tintenfass. Ist denn eine andere Welt möglich ?
    Unwillig schüttelte er den Kopf. Er musste zusehen, dass er mit seiner Arbeit vorankam. Seit Monaten saß er an einem Buch über die Geschichte der Philosophie, mit besonderer Betonung des selbstständigen Denkens und der Aufgabe der Philosophie im Alltag, und ebenso lange schon steckte er fest. Und er wusste ziemlich genau, woran es lag: Das Feuer fehlte.
    Ist denn eine andere Welt möglich? Antons Frage hatte sich in seinem Kopf eingenistet und ließ ihn nicht los.
    Frustriert stand Hendrik auf und begab sich zu einer Holzkiste, in der einige vor geraumer Zeit angeschaffte und noch nicht durchgesehene Nachschlagewerke über die Antike lagerten, wie er sich erinnerte. Das erste, worauf sein Auge fiel, als er den Deckel hob, war jedoch ein Stapel Jugendbücher. Die Schatzinsel , Der Kurier des Zaren . Augenblicklich vergaß er, weshalb er die Kiste geöffnet hatte, und fing stattdessen an, nach dem Graf von Monte Christo zu suchen.
    Eine halbe Stunde später glich das Zimmer einem Schlachtfeld. Stapel von Büchern übersäten jeden Tisch, jeden Stuhl, jeden freien Quadratzentimeter Fußboden. Hendrik fluchte vor sich hin; er wusste genau, dass er das Buch irgendwo hatte.

Weitere Kostenlose Bücher