Dunkle Tage
spöttisch einen imaginären Hut und verschwand wie ein Spuk.
3.
Dienstag, 16. März bis Freitag, 19. März 1920
Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.
Gustav Landauer, Anarchist,
1919 von Freikorpsmitgliedern ermordet
19
„Du hättest dabei draufgehen können!“
Hendrik nahm die Standpauke seines Bruders demütig hin; Gregors Sorge brauchte schließlich ein Ventil. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte Hendrik ihm den Zusammenstoß mit dem Spitzel verschwiegen, aber die Tatsache, dass er bei jeder falschen Bewegung vor Schmerz zusammenzuckte, verhinderte Heimlichtuereien. Zum Glück war es nur eine oberflächliche Wunde; der Arzt, der ihn gestern nach dem Vorfall behandelte, meinte, er habe großes Glück gehabt.
„Es war purer Leichtsinn von dir, dich so in Gefahr zu begeben! Weißt du eigentlich, was für ein Risiko du eingegangen bist? Die hätten dich an die Wand stellen können, und ich wäre machtlos gewesen! Ich verbiete dir, dich noch einmal einzumischen, hast du verstanden? Du … du behinderst meine Arbeit mit deinen Eigenmächtigkeiten!“ Gregor holte Atem. „Ich kann es mir nicht leisten, Männer zu deinem Schutz abzustellen. Für den Rest des Tages wirst du deshalb in meiner Nähe bleiben. Brauchst gar nicht so zu grinsen, ich weiß, dass ich dir damit einen Gefallen tue!“
In der Tat war Hendrik zufrieden, sich weiter an der Quelle der Informationen im Fall Unger aufzuhalten. Umso mehr, als er im Augenblick von jeder Verpflichtung entbunden war, weil die Universität aufgrund des Putsches geschlossen hatte. Eine Gefahr für ihn bestand seiner Meinung nach nicht mehr. Der Spitzel hatte sicher auf eigene Faust gehandelt; Pabst hatte gar keine Möglichkeit gehabt, ihm einen Mordbefehl zukommen zu lassen. Wahrscheinlich war der Mann einfach in Panik geraten, als er Hendrik zum Major gehen sah.
Gregor warf sich einen Mantel über. „Du kommst mit und benimmst dich unauffällig. Dass du dir Gedanken machst, kann ich wohl nicht verhindern, aber ansonsten halt dich raus!“
„Wohin fahren wir?“
„Zu den Broschecks.“
„Da dürfte um diese Zeit höchstens der alte Broscheck sein.“
„Hoffentlich.“
Irgendwie war es Gregor gelungen, einen Wagen aufzutreiben, und so brausten sie schon fünf Minuten später durch ein desolates Berlin. Die Wasserversorgung der Stadt war gestern Abend durch die Technische Nothilfe wieder in Gang gesetzt worden, nur die höher gelegenen Stadtteile hatten nach wie vor Probleme. Vielerorts waren die Aborte verstopft. Elektrizität blieb Mangelware, die Gasversorgung fehlte ganz. Das Wasser aus den wenigen Brunnen war braun und kaum noch genießbar.
Die Sintflut aus Flugblättern und Handzetteln, die sich über die Stadt ergoss und deren Informationsgehalt eine fragwürdige Qualität besaß, war nicht geeignet, den Hunger nach Nachrichten zu befriedigen. Mit größer werdender Verwirrung und der allgemeinen Gereiztheit nahmen auch die Übergriffe zu, die oft genug blutig endeten. Es hatte bereits die ersten Toten gegeben.
Die einzigen Fernzüge, die noch eintrafen, waren die Milchzüge. Auch private Fuhrwerke fuhren nach massenhafter Requirierung durch das Militär nur noch spärlich. Nicht wenige Leute mussten ihr Brot trocken essen, denn die Fettverteilung blieb diese Woche aus, und in den Läden gab es praktisch keine Lebensmittel mehr.
Bittere Erinnerungen an den Kohlrübenwinter vor drei Jahren wurden in Hendrik wach. Bis heute verstand er nicht, wie es dazu hatte kommen können, dass in Deutschland, dem größten Kartoffelland der Welt, Kartoffelmangel herrschte. Kaum weniger absurd war der Zuckermangel gewesen, teilweise durch das Militär verschuldet, das Zucker zur Herstellung von Sprengstoff benutzte. Die Ernährung bestand praktisch aus Ersatzstoffen. Der so genannte Kriegsbrotaufstrich anstelle von Fett war nichts anderes als Kunsthonig. Tee wurde aus Blättern von Erdbeeren, Brombeeren, Stechpalmen, Heidekrautblüten und was die Fantasie sich noch ausdenken konnte hergestellt. Skrupellose Händler boten sogar welchen aus getrocknetem Wiesengras an. Hagebutten, Schlehen und Mehlbeeren gaben besonders haltbare Marmelade. Die Kinder sammelten Bucheckern und erhielten dafür neben einem Lohn sechs Prozent der Menge in Bucheckernöl. Wegen der
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