Dunkle Träume (Wächterschwingen) (German Edition)
Jenna machte ihm Sorgen. Sie wirkte erschöpft und blass, wie sie in Lothaires Griff hing.
Irgendetwas Dunkles musste in ihr stecken, denn Kyrian vermutete, sich deshalb zu ihr hingezogen zu fühlen. Weil sie eine Gemeinsamkeit hatten.
Pyra zerrte ihn durch einen hell gefliesten Korridor, vorbei an zahlreichen eingesperrten Wesen. Was war das hier? Für ein Gefängnis sah es zu gepflegt aus. Es stank weder nach Unrat und Tod noch hörte er Folterschreie. Und Kyrian wusste, wie jemand schrie, der gefoltert wurde. Er selbst war immer wieder in einem dunklen, schmutzigen Loch erwacht, bis seine Peiniger dachten, ihn gebrochen zu haben. Doch das hatten sie nie. Er hatte all die Qualen und die harte Ausbildung nur für Myra auf sich genommen, um sie eines Tages zu befreien.
Als er seine Schwester in einer der Zellen erblickte, rief er ihren Namen.
»Kyrian!« Sie trat sofort ans Gitter. »Du hast Schwingen?« Zuerst lächelte sie, aber als sie ihn und ihre Gruppe musterte, krampften sich ihre Finger um die Stäbe und ihr Gesicht verdüsterte sich. »Was haben sie mit dir gemacht?«
Und was mit ihr? Sie trug nur einen Morgenrock und sah zerzaust aus, doch es schien ihr soweit gutzugehen. Sie lebte – das war das Wichtigste.
Nachdem er ihr keine Antwort gegeben hatte, weil er ihr nicht noch mehr Hoffnungslosigkeit vermitteln wollte, wandte sie sich an Dante, nur der ignorierte sie.
»Was ist hier los?«, rief Myra nun Jenna zu.
Der König rammte seine Faust gegen die Gitterstäbe, aber Myra wich nicht zurück. »Ihr könnt gleich miteinander plaudern, solange ich mich um den Verräter kümmere.« Die Vorfreude stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Meister Brattok«, brüllte er, »es wartet Arbeit auf Euch!«
Als ein Elf in einer roten Kutte auf sie zukam, traute Kyr seinen Augen nicht. Die fehlende Nase, das vernarbte Gesicht … Das war der Mörder seiner Mutter!
Für den Bruchteil einer Sekunde fing er Myras Blick auf und sie nickte ihm zu.
Kyrian unterdrückte ein Knurren und zerrte an den Fesseln – vergeblich. Er musste auf eine andere Gelegenheit warten, doch er schaffte es nicht, sich zurückzuhalten, der Hass auf diesen Mann gewann die Oberhand. Kyrian sah nur noch rot. Er spannte die Schwingen an, die daraufhin Pyra ins Gesicht schlugen, und nutzte das Überraschungsmoment, um sich loszureißen, die Arme weiterhin auf dem Rücken gefesselt. Er brauchte seine Hände nicht. Mit einem einzigen Satz sprang er auf Brattok, warf ihn mit der Wucht seines Körpers zu Boden und trieb die Fänge in dessen Hals. Blut spritzte und die warme, metallisch schmeckende Flüssigkeit füllte Kyrians Mund, als der Kehlkopf knackte. Kyrian zerfetzte ihn regelrecht, spürte das wilde Tier – den Gargoyle – in sich und genoss den Moment, bevor er ausspuckte.
Gurgelnd holte Brattok ein letztes Mal Luft, den überraschten Blick auf ihn gerichtet, bevor sich seine Lider für immer schlossen.
Der Mörder, nach dem er so lange gesucht hatte, war tot. So ein schnelles Ende hatte er nicht verdient, doch Kyrian hatte sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen wollen. Wer wusste schon, was dieser Bastard mit Myra anstellte oder bereits angestellt hatte?
Er drehte den Kopf, blickte in Myras erleichtertes Gesicht und wusste, dass er richtig gehandelt hatte. Eine Sekunde später traf ihn ein Schlag am Hinterkopf und die Welt um ihn herum verdunkelte sich.
*
Lothaire fluchte und tobte, während Jenna ihn gemeinsam mit Myra von der Zelle aus beobachtete. Dante und Pyra hatten Kyrian mit Gurten auf eine Liege geschnallt, die nun vor ihrem Gefängnis stand, damit sie sehen konnten, wie Lothaire ihn foltern würde. Kyrian war jedoch nicht wieder erwacht und Jenna machte sich Sorgen. Er hatte in den letzten Stunden zu viele körperliche Schäden davongetragen und eine Menge Blut verloren.
»Ich brauche Brattok nicht, um hier weiterzumachen, ich habe oft genug mit ihm zusammengearbeitet«, grollte Lothaire. »Daher ist er für mich kein großer Verlust. Dennoch wird der Bastard büßen!«
Pyra und sein Vater hatten den Toten weggebracht und hielten an der Eingangstür Wache, sodass Jenna sie von der Zelle aus nicht sehen konnte. Sie versuchte, von Dante etwas zu empfangen, aber ihr Band wurde deutlich schwächer. Anscheinend verstärkte nur das magische Wasser ihre geistige Verbindung außerhalb der Traumwelt, und die Wirkung ließ langsam nach. Wenn sie doch noch etwas von dem Najadenwasser haben könnte.
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