Dunkle Umarmung
aufdrücken, sondern mußt ihn so zart über deine Lippen gleiten lassen, als wolltest du ihn zärtlich küssen«, sagte sie und machte es mir vor. »Verstanden?« Ich nickte. »Gut.«
»Und vergiß nicht, die Strümpfe und die neuen Schuhe anzuziehen, die genauso wie meine aussehen. Trag immer hohe Absätze, denn sie bringen deine Beine wesentlich besser zur Geltung«, sagte sie.
Sie wollte gehen, blieb in der Tür aber noch einmal stehen.
»Fast hätte ich es vergessen. Ich habe noch eine Überraschung für dich«, kündigte sie an.
»Noch eine? Aber du und Daddy, ihr habt mir doch heute schon so viel geschenkt.«
»Es ist kein Geschenk, Leigh. Es ist ein Ausflug an einen Ort, den ich dir unbedingt zeigen möchte«, erklärte sie. »Ich nehme dich am kommenden Wochenende mit.«
»Wohin?«
»In dieses Herrschaftshaus, von dem ich dir erzählt habe, das den Namen Farthinggale Manor trägt.«
»Die Villa mit deinen Wandgemälden im Musikzimmer?«
Sie hatte mir eines Tages flüchtig davon erzählt. Mama illustrierte Kinderbücher, sie arbeitete für Patrick und Clarissa Darrow, das Ehepaar, das einen Verlag hier in Boston hatte; sie waren Nachbarn von uns. Ihre Innenarchitektin, Elizabeth Deveroe, wurde für Arbeiten in einer berühmten Villa außerhalb von Boston engagiert. Mama und Elizabeth waren gute Freundinnen, und Mama hatte sie eines Tages in die Villa begleitet und Vorschläge gemacht, die der Besitzerin anscheinend gefallen hatten. Sie und Elizabeth hatten Mama dann den Auftrag gegeben, ihre Pläne selbst auszuführen und die Wandgemälde anzufertigen, auf denen Szenen aus Märchen dargestellt waren. Das hatte Mama auch schon für die Buchumschläge gemalt.
»Ja. Ich habe schon mehr als die Hälfte fertig, und ich möchte, daß du dir die Bilder ansiehst, aber ich möchte dir auch Tony vorstellen.«
»Tony?«
»Mr. Tatterton, den Besitzer, und ich möchte, daß du sein Anwesen siehst. Natürlich nur, wenn du Lust dazu hast.«
»Ja, und wie! Ich kann es gar nicht erwarten zu sehen, was du gemalt hast.«
»Gut.« Sie lächelte. »Und jetzt sollten wir uns doch lieber beide anziehen, ehe dein Vater ein Loch in den Boden läuft.«
Ich lachte, dachte an den armen Daddy und überlegte mir, wie es für ihn sein würde, jetzt mit zwei herangereiften Frauen leben zu müssen, statt nur mit einer. Aber ich könnte nie grausam zu Daddy sein, dachte ich. Ich würde ihm nie etwas vormachen können oder ihm nicht sagen, was ich wirklich dachte. Kam denn nie eine Zeit, fragte ich mich, eine Zeit –
nachdem man sich verliebt hatte und verheiratet war –, in der man seinem Mann dann vertrauen und ihm gegenüber ehrlich sein durfte?
Ich zog den neuen BH und einen meiner neuen Kaschmirpullover und den passenden Rock dazu an. Ich bürstete mir das Haar zurück und trug den Lippenstift genauso auf, wie Mama es mir gezeigt hatte, und dann fand ich die Schuhe mit den Absätzen und stellte mich vor den Spiegel, um mich anzusehen.
Ich sah vollkommen anders aus. Es war, als sei ich über Nacht erwachsen geworden. Leute, die mich nicht kannten, hätten mein wahres Alter gewiß nicht schätzen können. Wie aufregend, dachte ich, und doch war es auf gewisse Weise ein wenig beängstigend. Ich sah älter aus – aber konnte ich mich auch benehmen, als sei ich älter? Ich beobachtete Mama immer in der Öffentlichkeit, wie sie von einer Rolle in eine andere zu schlüpfen schien, mal dies, mal das wurde, manchmal kicherte und sich albern benahm und dann wieder so elegant und aristokratisch wirkte, daß jeder sie für eine Adelige gehalten hätte.
Schön war sie immer; sie stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Jedesmal, wenn sie einen Raum betrat, brachen Männer ihre Gespräche ab, und ihre Köpfe drehten sich so schnell nach ihr um, daß sie fast Genickstarre bekamen.
Mich machte die Vorstellung nervös, daß in dem Restaurant, in dem wir mein Geburtstagsessen einnehmen wollten, die Blicke aller auf die Tür gerichtet sein würden, wenn wir eintraten. Männer und Frauen würden auch mich ganz genau betrachten. Ob sie wohl lachten? Würden sie sich sagen: Das ist ein junges Mädchen, das seine Mutter nachzuahmen versucht?
Als ich schließlich die Treppe hinunterlief und auf Daddys Büro zuging, war ich von Sorge erfüllt. Er war der erste Mann, der mich in dieser Aufmachung sah, und im Moment war er der wichtigste Mann in meinem Leben. Mama machte sich noch fertig.
Daddy stand hinter seinem Schreibtisch und las einen
Weitere Kostenlose Bücher