Dunkle Umarmung
es in allen Schulen mehr oder weniger gleich zugeht. Die Lehrerinnen waren sehr nett und forderten mich auf, ihnen den Unterricht in meiner früheren Schule genauer zu schildern, und dann nahmen sie sich die Zeit, um mir zu zeigen, womit ich mich befassen sollte und was ich nachzulernen hatte.
Als Jennifer und ich am Abend zum Abendessen in den Speisesaal gingen, stand vor meinem Platz eine Rose auf dem Tisch. Die Mädchen redeten alle darüber, als wir zu ihnen stießen.
»Was ist denn das?« fragte Jennifer ganz aufgeregt.
»Das ist für Leigh«, sagte Wendy neidisch.
»Für mich?« Ich sah die Karte an und war sicher, daß sie sie bereits alle gelesen hatten. Darauf stand: »Viel Glück, Tony.«
»Sie ist von meinem Stiefvater«, erklärte ich.
»Wie aufmerksam!« rief Jennifer.
»Wie romantisch!« meinte Marie und zwinkerte mir zu.
»Warum steht der Name deiner Mutter nicht auch auf der Karte?« Alle Mädchen drehten sich zu mir um und warteten auf meine Antwort.
»Ich denke, daß es ein spontaner Einfall von ihm war«, sagte ich.
Marie lächelte die anderen an, und alle außer Jennifer kicherten.
»Warum hat er nicht mit ›Daddy‹ unterschrieben?« wollte Marie wissen.
»Aber er ist doch nicht mein Daddy. Mein Vater ist nicht tot.
Meine Eltern sind geschieden«, erklärte ich. Ich war froh, daß Jennifer nicht alles ausgeplaudert hatte, aber jetzt starrten mich sämtliche Mädchen mit offenen Mündern an, als sei ich eine Erscheinung, ein Geist, der geradewegs aus den tiefsten Abgründen der Geschmacklosigkeit auferstanden und hier an diesen Tisch getreten war.
Als Jennifer und ich mit unseren Tabletts zurückkamen, war die Unterhaltung am Tisch wesentlich gedämpfter. Ich konnte den anderen Mädchen an ihren Gesichtern ansehen, daß sie über mich geredet hatten. Die freundliche Begrüßung, mit der sie mich beim Mittagessen aufgenommen hatten, war abgekühlt. Die Mädchen begannen eine Unterhaltung darüber, wie sie sich am liebsten schminkten. Als ich eine Meinung dazu beitragen wollte, schien mir außer Jennifer niemand zuzuhören.
Nach dem Abendessen war für uns alle die Studierzeit angesagt. Als die Mädchen aufstanden, um zu gehen, beugte sich Marie zu mir vor.
»Meine Party heute abend fällt aus«, sagte sie. »Ich hatte ganz vergessen, daß ich morgen eine Naturkundearbeit schreiben muß.«
»Ihre Party fällt nicht aus«, sagte ich zu Jennifer. »Sie wollen nichts mit mir zu tun haben, weil meine Eltern geschieden sind.«
»Mach dir nichts draus«, flüsterte Jennifer, als wir hinter den andern hergingen. »Sie werden schon noch darüber hinwegkommen.«
»Mir ist egal, ob sie sich damit abfinden oder nicht«, entgegnete ich, aber im tiefsten, verborgensten Winkel meines Herzens weinte ich. Warum wollte Mama, daß ich eine Schule besuchte, in der es von Mädchen aus alten Familien wimmelte, die ihre Nase so hoch in die Luft reckten, daß man ihre Augen nicht sehen konnte? Keine von ihnen würde mich je zu sich nach Hause einladen wollen, dachte ich. Warum wurde ich bloß für die Dinge bestraft, die Mama tat?
Ich wünschte mir mehr denn je, wieder zu Hause in Boston zu sein und in meine frühere Schule zu gehen, denn dort hätten mich meine Freundinnen nicht wie eine Aussätzige angesehen.
Ich wäre am liebsten fortgelaufen. Ich überlegte mir sogar genau, wie sich das machen ließe. Ich würde zu Daddy ziehen und bei ihm leben, auch, wenn er ständig auf Reisen war. Alles andere war besser als das hier.
Jennifer war allerdings sehr lieb und strengte sich an, um mich aufzumuntern. Wir arbeiteten fleißig an unseren Schulaufgaben, verbrachten aber auch viel Zeit damit, uns über Mode, Musik und Jungen zu unterhalten. Wie ich hatte sie noch nie wirklich einen Freund gehabt, aber es gab einen Jungen, den sie mochte, und er besuchte Allandale, eine Jungenschule, die gelegentlich ihre Schüler zu Tanzveranstaltungen nach Winterhaven schickte.
Die Freizeit war schon vor einer ganzen Weile angebrochen, als wir unser Zimmer verließen, um ein wenig fernzusehen, aber als wir den Gemeinschaftsraum erreichten, fanden wir dort kein einziges anderes Mädchen von unserem Tisch vor, niemanden von dem »Club«, von dem Marie gesprochen hatte.
»Sie sind alle in ihrem Zimmer und feiern dort die Party. Du solltest hingehen. Ich möchte dir den Spaß nicht verderben, Jennifer«, sagte ich.
»Ich mag nicht hingehen, jedenfalls nicht, wenn du nicht eingeladen bist«, erwiderte sie. »Und
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