Dunkle Umarmung
schneidend. Sie machte ein langes Gesicht. »Schon gut«, sagte ich, »was also tut dein Daddy?«
»Er war Anwalt, einer der besten von New England«, sagte sie stolz. Dann wurde ihr Lächeln so zerbrechlich wie hauchdünnes Glas. »Aber er ist im letzten Jahr gestorben.«
»Oh, das tut mir leid für dich.«
»Ich vermute, deshalb protze ich mit den Vätern der anderen.«
Sie senkte die Lider und schaute dann schnell wieder auf, als ein neuer Einfall sie in Begeisterung versetzte. »Aber wie kommt es, daß du einen Stiefvater hast, und noch dazu einen so jungen?« Ich war sicher, daß sie glaubte, mein Vater sei auch gestorben und wir hätten weit mehr gemeinsam als nur unser Alter und dieselben Kurse.
»Meine Mutter hat sich von meinem Vater scheiden lassen«, platzte ich heraus. Ich sah keinen Sinn darin, ein Geheimnis daraus zu machen. Mit der Zeit würden ohnehin alle dahinterkommen. Sie riß die Augen weit auf.
»Wie traurig«, sagte sie. »Ist es schlimm für dich, deinen eigenen Vater so selten zu sehen?«
»Ja. Und er hat wenig Zeit. Er arbeitet viel. Er hat Dampfer, auf denen er Kreuzfahrten veranstaltet. Aber er wird diese Woche herkommen und mich besuchen«, fügte ich hinzu, ohne meine Freude und meine Aufregung zu verbergen. »Er will mich zum Abendessen abholen.«
»Wie schön«, sagte sie. »Mein Daddy ist früher auch mit mir essen gegangen«, fügte sie wehmütig hinzu.
»Diesmal wird es nichts, weil ich ihn selbst seit einiger Zeit zum ersten Mal wiedersehe, aber vielleicht nehme ich dich beim nächstenmal mit, wenn du möchtest.«
»Wirklich? Oh, wäre das schön! Ich werde auch ganz bestimmt nichts Dummes sagen und auch nichts, was dich in Verlegenheit bringt. Du sagst mir einfach vorher, wie ich mich benehmen soll. Und ich werde mit keinem der anderen Mädchen darüber reden, was du mir erzählst. Das verspreche ich dir, Hand aufs Herz und großes Ehrenwort«, sagte sie und hielt mir die Hand hin. Ich mußte lachen.
»Schon gut, aber jetzt laß mich erst mal meine Sachen verstauen, ehe die Hohepriesterin nach mir Ausschau hält, weil wir zu lange getrödelt haben.«
Jennifer quietschte vor Freude und umarmte mich. In diesen wenigen Minuten hatte sie die Sorgen verscheucht, die sich in den dunkelsten Winkeln meines Kopfes breitgemacht hatten.
Ich wußte, daß das der Anfang einer großartigen Freundschaft war.
Jennifer führte mich herum und zeigte mir den Speisesaal, die Aula, die unterirdischen Gänge und die Turnhalle. Dann erklärte sie mir, wie ich am schnellsten von einem Kurs zum anderen kam.
»Unsere Lehrer machen im allgemeinen einen ziemlichen Wirbel, wenn wir zu spät zum Unterricht kommen. Also achte darauf, oder…« Sie fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle, »…sonst wirst du zur Hohenpriesterin bestellt und kannst dir einen ihrer langen Vorträge über die Etikette und über die Notwendigkeit von Disziplin und Ordnung anhören.«
»Ich vermute, du hast das schon ein paarmal über dich ergehen lassen?«
»Ein paarmal schon«, gestand sie, »aber sie ist immer nett zu mir gewesen, seit… seit…«, fügte sie hinzu. Das genügte. Ich verstand, was sie sagen wollte. »Und jetzt solltest du besser zu ihr gehen. Ich muß rechtzeitig zum Unterricht erscheinen, dann gibt es Mittagessen, und dort wirst du alle anderen kennenlernen.«
»Danke, Jennifer.«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Ich freue mich, daß du hier bist. Du bist meine erste Zimmergenossin.«
»Wirklich? Aber ich dachte, du hättest gesagt, daß du schon seit drei Jahren hier bist.«
»Es hat sich nun mal so ergeben«, sagte sie und ging, um rechtzeitig zu ihrem Kurs zu erscheinen. Sie war eindeutig das, was Großmama Jana als »erfrischend« bezeichnet hätte. Ich lief in Miß Mallorys Büro, um mir meinen Stundenplan abzuholen und mir einen ersten Vortrag halten zu lassen. Jetzt, nachdem Tony gegangen war, hatte sich ihr Verhalten entschieden geändert. Sie war bei weitem förmlicher, und ihr Ausdruck hatte seine Milde verloren. Mit kalter Berechnung musterte sie mich von Kopf bis Fuß, schätzte mich ab, taxierte mich und versuchte, sich ein Bild von meinem Charakter zu machen, von meinen Schwächen und meinen Stärken.
»Wenn an den Wochentagen morgens um sieben die Glocken läuten, stehen Sie auf und ziehen sich so schnell wie möglich an. Frühstück gibt es um sieben Uhr dreißig, das heißt, daß Ihnen wenig Zeit bleibt, die Sie mit Ihrer Schminke oder Ihrer Frisur vertrödeln
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