Dunkle Umarmung
Bettes war jeweils ein schmales, hohes Sprossenfenster, und vor den Fenstern hingen hellgelbe Jalousien und dünne eierschalfarbene Gardinen.
Jennifer Longstone saß an ihrem Schreibtisch in der rechten hinteren Zimmerecke. Sie stand augenblicklich auf und lächelte. Sie war mindestens acht Zentimeter kleiner als ich und hatte ein rundes Gesicht mit großen dunklen Augen und schwarzem Haar, so schwarz wie Lakritz. Ich mochte ihr Lächeln und ihre kleine gerümpfte Stupsnase. Sie trug eine weiße Bluse und einen blauen Rock mit Halbschuhen und Söckchen.
»Jennifer«, sagte Miß Mallory, »das ist Leigh van Voreen mit ihrem Stiefvater Anthony Tatterton.«
»Sehr erfreut«, sagte Jennifer und hielt erst Tony und dann mir die Hand hin, während Miß Mallory sie kritisch betrachtete.
»Jennifer besucht dieselben Kurse wie Sie«, fuhr Miß Mallory fort. »Jennifer führt Sie herum, wenn Sie sich hier eingerichtet haben, und dann sprechen Sie in meinem Büro vor, damit wir Ihren Stundenplan durchgehen können. Jennifer, Sie können dann wieder Ihren Unterricht besuchen.«
»Ja, Miß Mallory«, erwiderte Jennifer, aber ihre Augen funkelten schalkhaft, als sie mich ansah. Ich mochte sie vom ersten Moment an.
»Mr. Tatterton«, sagte Miß Mallory, »ich hoffe, daß meine Arrangements Sie zufriedenstellen.«
»Eigentlich geht es mehr darum, daß Leigh damit zufrieden ist«, erklärte Tony und sah mich mit seinem typischen Lächeln an.
»Ich komme schon zurecht«, sagte ich.
»Nun, wenn das so ist«, sagte Miß Mallory, »dann werden wir euch beide jetzt verlassen, damit ihr euch miteinander bekannt machen könnt. Melden Sie sich bitte bei mir, wenn Jennifer Ihnen alles gezeigt hat, Leigh.«
»Ja, Ma’am.«
»Wir sehen uns dann am Wochenende«, sagte Tony. »Aber ruf ruhig an, wenn du irgend etwas brauchst, ich bin täglich in der Stadt.«
»Danke, Tony, und grüß Troy von mir.«
»Das tue ich ganz bestimmt.« Er küßte mich schnell auf die Stirn und folgte Miß Mallory aus dem Zimmer. Jennifer rührte sich nicht und sagte auch kein Wort, solange Miß Mallory die Tür nicht hinter sich geschlossen hatte. Dann überschüttete sie mich mit einem sprudelnden Wortschwall.
»Hallo. Ich bin ja so froh, daß ich eine Zimmergenossin bekommen habe. Du heißt Leigh? Ich komme aus Hyannis Port. Bist du schon mal da gewesen? Ja, natürlich mußt du schon dort gewesen sein. Oder du bist zumindest durchgefahren. Möchtest du, daß ich dir beim Auspacken helfe? Dort sind deine Kommode und dein Kleiderschrank, aber wenn du mehr Platz brauchst, kannst du auch Sachen in meinem Kleiderschrank unterbringen. Ich habe noch Platz. Das war dein Stiefvater? Der sieht aber gut aus. Wie alt ist er denn?« Sie unterbrach sich, um Atem zu holen, und ich lachte.
»Oh, ich rede zuviel. Entschuldige, bitte. Wahrscheinlich hast du mir tausend Fragen zu stellen. Mach schon, frag ruhig«, sagte sie. Sie verschränkte die Arme und trat zurück.
»Wie lange bist du schon in Winterhaven?«
»Mein Leben lang. Nein, das war nur ein Scherz. Seit drei Jahren. Hier gibt es Kurse für Anfänger und Fortgeschrittene, verstehst du. Ich bin dazu verurteilt, die ganze Zeit hier abzusitzen. Wo bist du bisher in die Schule gegangen?«
»Ich war in einer staatlichen Schule in Boston.«
»In einer staatlichen Schule! Du Glückliche – Kurse, in denen auch Jungen sind, und Jungen in den Gängen und in den Pausenräumen. Hier bekommen wir nur dann Jungen zu sehen, wenn die Hohepriesterin eine Tanzveranstaltung gestattet.«
»Die Hohepriesterin?«
»Miß Mallory. Weißt du, sie ist erst sechsundzwanzig, aber Ellen Stevens hat mir erzählt, daß Miß Mallory ein Gelübde abgelegt haben soll wie eine Nonne, und sie hat gelobt, sich ganz ihren Zöglingen zu widmen. Sie wird niemals heiraten.
Sie lebt hier und geht nie aus!«
»Ellen Stevens?«
»Ja. Ach, beim Mittagessen wirst du sie alle sehen. Wir haben den besten Tisch in dem Flügel, in dem die jüngeren Mädchen sitzen. Dann sind da noch Ellen und Marie Johnson, deren Daddy all dieses Autowerkzeug herstellt, und Betty Edwards. Ihr Vater leitet das Opernhaus von Boston, und Carla Reeve, deren…«
»Beurteilt man hier alle nur danach, was ihre Väter tun?« fiel ich ihr ins Wort. Das nahm ihr den Wind aus den Segeln.
»Ach, entschuldige. Ich dachte nur, du wüßtest es vielleicht gern. Wenigstens wollen die meisten Mädchen, die herkommen, diese Dinge wissen.«
»Ich aber nicht«, sagte ich
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