Dunkle Verlockung (German Edition)
Flügel aus und schwang sich in den Himmel. Dieses Geschöpf aus reiner, roher Macht jagte nun jene, die sie auf grausamste Weise hatten zum Schweigen bringen wollen.
Sie vernahm das Rascheln von Flügeln.
Sie riss ihre Aufmerksamkeit vom leeren Himmel los und sagte an Jason gewandt: » Ich habe ein Buch für dich zurückgelegt.« Auch dieser Engel gehörte zu den wenigen, die sie nicht unterrichtet hatte – er war einfach eines Tages als ausgewachsener junger Mann in der Zufluchtsstätte aufgetaucht.
Jessamy hatte Jason nie nach seinem Leben vor seiner Ankunft in der Zufluchtsstätte gefragt, aber sie wusste, dass es Narben auf ihm hinterlassen hatte. Seine emotionale Entwicklung war derart beeinträchtigt, dass er Schwierigkeiten hatte, persönliche Bindungen einzugehen. Er strahlte eine durchdringende Einsamkeit aus, die sich in ihrer eigenen widerspiegelte. Doch dieser rätselhafte Engel wahrte sogar Jessamy gegenüber seine Distanz und zog es vor, sich mit Schatten zu umgeben, obwohl sie früher nur eine leise Ermutigung gebraucht hätte, um sich ihm hinzugeben.
»Danke.« Das Licht schimmerte auf seinem glänzenden, schulterlangen Haar, die stufig geschnittenen, ebenholzfarbenen Strähnen beschatteten seine klaren Gesichtszüge und das verwirbelte, mysteriöse Tattoo, das seine linke Gesichtshälfte bedeckte. »Der Vampir, der dich angegriffen hat, wurde zu Alexanders Hof zurückverfolgt. Seine Leute bestreiten, irgendetwas über die Taten des Mannes gewusst zu haben.«
»Was hältst du davon?«, fragte sie, denn trotz seiner Narben – oder gerade deswegen – besaß Jason die Gabe, den Kern der Dinge zu erkennen, ohne sich durch Vorurteile oder Gefühle blenden zu lassen. In vielerlei Hinsicht war er das Gegenteil von Galen, er war so subtil und gewandt wie Galen unverblümt und direkt war.
Ich weiß, wann ich mich zurückziehen und meinen Gegner in Sicherheit wiegen muss … und wann ich zum finalen Siegesschlag ausholen muss.
Sie hatte gesagt, er solle sich nicht um sie bemühen, aber tief in einem sehr geheimen Teil von ihr rief eine Stimme, er solle dranbleiben, sich durchsetzen und sich gewaltsam durch die Barrieren schlagen, die sie ihm in den Weg gestellt hatte. Es wäre gefährlich, herzzerreißend gefährlich, sich auf ihn einzulassen. Aber so sehr begehrt zu werden – das war die späteren Qualen vielleicht wert.
»Ich glaube«, wie dunkler Rauch drang Jasons Stimme in ihr Bewusstsein, »dass Alexanders Hof in diesem Punkt die Wahrheit sagt. Er hat einen ganzen Stall voller Auftragsmörder. Selbst der schlechteste von ihnen ist besser als der Vampir, den Galen hingerichtet hat.«
»Weiß Raphael, dass er sich vorsehen sollte?« Als Hüterin der Geschichte hätte Jessamy in dem drohenden Krieg eine neutrale Position einnehmen sollen, aber sie hatte eine Schwäche für den jüngsten Erzengel. Er hatte als Kind so fröhlich gelacht … zumindest vor dem unaufhaltsamen Wahnsinn seines Vaters und der entsetzlichen Entscheidung seiner Mutter, ihren Gefährten umzubringen, den sie mit jedem Atemzug geliebt hatte.
Selbst als sich bei ihm in sehr jungen Jahren abgezeichnet hatte, dass er Jessamy an Macht weit überlegen war, hatte Raphael sie immer, immer mit Respekt behandelt. Aber auch er veränderte sich. Vielleicht war diese kühle Arroganz bei einem so großen Ausmaß an Macht unumgänglich. Jedes Mal, wenn er in die Zufluchtsstätte zurückkehrte, sah sie in ihm weniger von dem Jungen von einst und mehr von der tödlichen Kreatur, einem Mitglied des Kaders.
»Dmitri hat dafür gesorgt«, antwortete Jason auf ihre Frage, »dass kein Spion nahe genug herankommt, um Anlass zur Besorgnis zu geben.«
»Und du hast dafür gesorgt, dass Raphael selbst Spione an Alexanders Hof hat.«
Jason schwieg zu diesem Punkt. Keine Regung zeigte sich auf seinem Gesicht unter den unheimlichen Windungen und Linien einer Tätowierung, deren Herkunft er nie erklärt hatte. Sie konnte ebenso gut eine Ehrung sein wie eine unter außerordentlichen Schmerzen geschaffene Mahnung. Aber Jessamy kannte ihn schon zu lange, um sich davon täuschen zu lassen.
Ohne ihrem Blick auszuweichen, sagte er: »Galen hat keine Frau und keine Geliebte, er hat niemandem gegenüber ein Versprechen einzuhalten.«
Schon vor langer Zeit hatte sie aufgehört, sich darüber zu wundern, woher Jason wusste, was er wusste, und doch stockte ihr bei seinen Worten der Atem und ihr Herz schlug schneller. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«
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