Dunkle Verlockung (German Edition)
Mutter«, Zaria strich absichtlich mit ihrem Flügel über den Stein, als wolle sie dessen Struktur prüfen, »hat angefangen, die nächste Riege Rekruten zu trainieren.«
Tanae musste von Zarias Entscheidung, überzulaufen, gewusst haben – solche Reaktionen auf den Weggang eines Kommandanten waren nicht ungewöhnlich und wurden im Auge behalten – und doch hatte sie der Kundschafterin keine Nachricht mitgegeben. Von seinem Vater hatte Galen nie etwas anderes als eine Erziehung zum Krieger erwartet, aber er hatte jahrzehntelang darum gekämpft, sich ein anerkennendes Wort von seiner Mutter zu verdienen … und dabei immer gewusst, dass es ein hoffnungsloses Unterfangen war.
Tatsache war, dass Tanae eine Anomalie unter den Engeln darstellte. Als talentierte und stolze Kriegerin hatte sie nie ein Kind gewollt. Man musste ihr zugutehalten, dass sie Galen mit gewissenhafter Fürsorge aufgezogen hatte, und obwohl die Flatterbienchen ihn wie ein Schoßtier hätscheln wollten – was er stets mit kindlicher Wildheit zurückgewiesen hatte –, war es immer nur Tanae gewesen, die er hatte beeindrucken wollen. Bis er schließlich begriffen hatte, dass sie ihre Gleichgültigkeit nicht vortäuschte, um ihn zu größeren Höhen anzuspornen. Das war ihm bis ins Mark gegangen.
Die Erkenntnis hatte dem Jungen von damals das Herz gebrochen.
»Ich muss an Titus’ Hof zurückkehren, um meinen Abschied offiziell zu machen«, sagte Zaria. Ihr Ton verriet ihm, dass sie an seinen Fragen nichts Seltsames fand. »Ich kann deinen Eltern einen Brief von dir bringen.«
Den verletzten Jungen von damals gab es schon lange nicht mehr, an seiner Stelle stand nun ein Mann, der sich nie vor etwas versteckt hatte, so verheerend es auch sein mochte. »Nein, dazu besteht kein Anlass.« So weit von dem Hof entfernt, den seine Mutter ihr Zuhause nannte, konnte er Tanae endlich das geben, was sie immer gewollt hatte – die Freiheit, zu vergessen, dass ihr jemals die abscheuliche Schwäche aufgezwungen worden war, ein Kind in ihrem Leib zu tragen.
»Keir kommt«, verkündete Jason, und im nächsten Augenblick erschien das Gesicht des Heilers in der Tür zu dem Bibliotheksraum, in dem Jessamy arbeitete. Keir hatte alte Augen in seinem jugendlichen Gesicht, die schlanke, anmutige Figur eines Tänzers und war der begabteste Heiler unter den Engeln. Seine Gesichtszüge waren so zart, dass sie beinahe weiblich wirkten … aber niemand hätte ihn versehentlich für eine Frau gehalten.
Auf leisen Füßen – so leise wie die der Katze, die um seine Beine strich – trat er ein und setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl, seine goldbraunen Flügel strichen leicht über den dichten, kupferfarbenen Teppich. »Hallo Jason«, sagte er. Währenddessen sprang die Katze auf den Tisch und ließ sich darauf nieder wie eine kleine, rauchgraue Sphinx mit Augen aus strahlendem Gold.
»Keir.« Der schwarzgeflügelte Engel huschte nach seinem Gruß davon, verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
»Ich mache mir Sorgen um unseren schönen Jason.« Keirs Blick ruhte auf der schweren Holzplatte, hinter der Jason Wache stand. »Wenn man das überlebt hat, was ich bei ihm vermute, hat man nichts mehr zu fürchten.«
Jessamys Hand grub sich in den blassgelben Stoff ihres Gewands, ihre Gedanken kreisten noch um die stumme Panik, die ihre Begegnungen mit Galen begleitet hatte. »Ist das nicht ein Geschenk, vor nichts Angst zu haben?«
Keir schüttelte den Kopf, und sein seidiges Haar streifte seine Schultern. »Wir alle sollten etwas haben, das wir fürchten, Jessamy.« Die Katze schnurrte, als er mit seinen schlanken Fingern durch ihr Fell strich. »Ebenso wie wir alle etwas haben sollten, auf das wir hoffen können. Jason hat keines von beidem.«
»Und so jemand«, flüsterte Jessamy, »hat keinen Grund, weiterzuleben.« Die Sorge um diesen Engel schnitt ihr ins Herz; seine Stimme war so unvergesslich, dass sie Calianes Konkurrenz machte, und sein Gesang rührte ihr Herz zu Tränen. »Raphael«, sagte sie mit vor Erleichterung zitternder Stimme. »Jason hat ihm die Treue geschworen. Und Raphael wird ihn nicht gehen lassen.«
»Richtig. Die Arroganz dieses jungen Erzengels hat etwas für sich.« Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf seinem Gesicht, denn auch Keir hatte seinen Liebling. »Also, wie ich höre, macht dir der große Grobian, den Raphael als seinen Waffenmeister angenommen hat, den Hof?«
Jessamys Kopf fuhr hoch. »Dass Jason es weiß,
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