Dunkle Verlockung (German Edition)
wollte er ihn in der Halle sehen – als Waffenmeister musste er die Stärken und Schwächen aller Männer kennen, die Raphaels Vertrauen genossen.
»Ja. Seit diesem Jahr bin ich für den Sire als Kurier tätig.«
»Du bist sehr jung für eine solche Aufgabe.«
»Ich habe eine Sonderfreistellung bekommen«, begann Aodhan gerade zu erklären, als weiß-goldene Flügel vom Himmel hinabsausten. Raphael setzte zur Landung auf dem Balkon an und der Wind seines Sinkflugs blies Galen die Haare aus dem Gesicht.
»Ihr seid alle hier«, sagte der Erzengel, als er die Flügel auf dem Rücken zusammenlegte. »Gut.«
Vom Klang seiner Stimme angezogen, versammelten sie sich um ihn.
»Es wird Zeit, dass ich in mein Territorium zurückkehre«, sagte Raphael. »Wie es aussieht, rührt Alexander sich. Galen, du wirst mich begleiten.«
Kälte durchströmte seine Adern. Er hatte immer gewusst, dass er an Raphaels Seite gebraucht werden würde, sollte es zum Krieg kommen. Aber … »Wir können Jessamy nicht ungeschützt zurücklassen.« Seine Wut entflammte aufs Neue, als er daran zurückdachte, wie seine starke Jessamy in diesem so intimen Moment an seiner Brust geweint hatte.
»Aodhan, Illium und Jason, der heute Abend zurückkehrt, werden dafür sorgen, dass sie keinen Augenblick in Gefahr ist.« Raphael sah die beiden anderen Engel an, und diese nickten unverzüglich. »Jessamy ist eine intelligente Frau. Sie wird sich nicht auf törichte Weise selbst in Gefahr bringen.«
Das wusste Galen. Aber er wusste auch, dass er sie persönlich beschützen musste. »Kann ich dich allein sprechen?«
»Illium, Aodhan.«
Auf diesen leisen Befehl hin schwangen sich die beiden Engel vom Balkon und versuchten, einander davonzufliegen. Vor dem zerklüfteten Fels der Schlucht boten ihre Flügel eine glänzende Show aus zerborstenem Licht und wildem Blau.
»Du machst Jessamy den Hof«, sagte Raphael, die Aufmerksamkeit ganz auf Galen gerichtet. Die erschütternde Kraft, die durch seine Adern floss, war beinahe körperlich zu spüren. »Sie begreift die Welt, wie es nicht viele tun, sie wird verstehen, warum du jetzt nicht in der Zufluchtsstätte bleiben kannst.«
Entschlossen, für diese Sache zu kämpfen, schüttelte Galen den Kopf. »Der Flug in dein Territorium ist lang, wir werden gezwungen sein, mit konstanter Geschwindigkeit zu reisen.« Anders als bei dem Spiel zwischen Illium und Aodhan würde es um Ausdauer gehen. »Eine leichte Per son wird uns nicht au fhalten.«
Vor Überraschung verdunkelten sich Raphaels Augen. »Jessamy verlässt die Zufluchtsstätte nie.«
»Nein.« Hinter seinem Rücken hielt er seine Handgelenke fest umklammert. »Jessamy kann die Zufluchtsstätte nicht verlassen.«
Die Reglosigkeit des Erzengels hatte nichts Sterbliches an sich, nicht einmal ein gewöhnlicher Engel wäre dazu fähig. Es war etwas, das absolut und ausschließlich ihm gegeben war. »Du beschämst mich, Galen«, brachte er endlich hervor; in den goldenen Fasern seiner Flügel fing sich das Sonnenlicht. »So viele Jahrhunderte lang kenne ich sie nun schon, und nicht ein Mal habe ich sie gefragt, ob sie andere Länder besuchen möchte.«
»Jessamy«, sagte Galen, »ist nicht der Typ Frau, der seine innersten Gedanken mit der Welt teilt.« Es war ein Geschenk, hinter diesen hauchdünnen, undurchdringlichen Schleier aus beherrschter Anmut blicken zu dürfen.
Raphael sah ihn von der Seite an. »Aber mit dir teilt sie sie?«
»Nein, aber das wird sie noch.« Galen würde nicht weichen, würde niemals seine Meinung ändern, und er würde sie nicht zurücklassen. »Illium sagt, ich hätte die Subtilität eines Bären mit einer groben Keule. Aber Bären mit Keulen schaffen Ergebnisse.«
Raphael lachte, doch seine Worte waren pragmatisch. »Du bist der Einzige, von dem Jessamy sich fliegen lässt, seit sie erwachsen ist. Aber wenn du ihre Zustimmung gewinnen kannst, können wir uns abwechseln. Wir brechen beim nächsten Morgengrauen auf.«
Als Galen sich kurz darauf von dem Balkon aus in die Luft schwang und der Wind ihm durch die Haare strich, dachte er darüber nach, was er zu Raphael gesagt hatte – über jeden Aspekt seiner Worte. Jessamy war eine Frau mit geheimen Leidenschaften und Träumen, mit verborgenen Facetten und intimen Mysterien. Er fragte sich, ob er sie jemals wirklich kennen würde. Bei der Vorstellung, für immer davon ausgeschlossen zu sein, fuhr ihm der Schmerz in seine zusammengepressten Kiefer. Aber im Unterschied zu
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