Dunkle Verlockung (German Edition)
einfach ignorieren, dass dein Flügel verdreht ist?«
»Titus hat wenigstens Manieren«, sagte sie. Es machte sie rasend, wie leichtfertig er seinen Pfeil in die älteste und schmerzhafteste aller Wunden auf ihrer Seele geschossen hatte. »Warum du nicht?«
Schwer und warm strich Galens Flügel über ihren Rücken, doch seine Worte waren gnadenlos. »Ich glaube, dass die Leute sich wegen deines Flügels nur auf Zehenspitzen in deiner Nähe bewegen. Und du lässt es zu.«
Der Versuch, ihre Hand aus seiner zu ziehen, war so Erfolg versprechend, als wäre sie unter einem Felsen eingeklemmt. »Ich kann den Rest des Weges allein gehen.« Das Haus ihrer Nachbarin war bereits in Sichtweite. »Geh schon, sag Dmitri Bescheid.«
Statt zu gehorchen, ging er einfach weiter, und sie musste mitgehen, wenn sie nicht riskieren wollte, hinterhergeschleift zu werden. »Ich hätte dir mehr Courage zugetraut, Jessamy.«
Sie wollte ihn schlagen. Treten. Ihn verletzen. Der Drang war so untypisch für sie, dass sie sich zwang, im Geiste einen Schritt zurückzutreten und in tiefen Zügen die kühle Bergluft einzuatmen. »Ich habe mehr Courage, als du jemals begreifen wirst«, sagte sie mit stolz aufgerichtetem Rücken, als sie vor Alias Haus anhielten.
Wie kann er es wagen, so etwas zu mir zu sagen? Wie kann er es nur wagen?
Als sie erneut versuchte, die Hand wegzuziehen, ließ er diese los und sie ging auf die Tür zu. Es bereitete ihr fast körperliche Schmerzen, dass er eine so perfekte Aussicht auf den Flügel hatte, der sie schon zur Tapferkeit gezwungen hatte, als die meisten anderen Engel noch lachende Kinder gewesen waren. Aber sie zögerte nicht, blieb nicht stehen. Und sie sah sich nicht noch einmal um.
Dmitri warf einen Blick auf die Leiche und dann auf die rot-schwarzen Blutspritzer an der Wand. »Wie geht es Jessamy?«
»Gut.« Sie war so wütend auf ihn, dass die Knochen unter ihrer goldbestäubten Haut hervorgetreten waren. Das Verlangen, ebendiese Haut mit seinen Lippen zu kosten, war ebenso primitiv und ungestüm wie der Wunsch, über die üppige Wölbung ihrer Flügel zu streichen. Ihre weichen Federn hatten ihn so sehr in Versuchung geführt, dass er eine von ihnen in ihrem Haus vom Boden aufgehoben und sorgfältig in seiner Hand verborgen hatte. »Wenn die Schockwirkung des Angriffs nachlässt, wird sie wissen wollen, was dahintersteckt.«
»Das ist die Frage, nicht wahr?« Konzentriert betrachtete Dmitri das Gesicht des toten Vampirs. »Er gehört nicht zu Raphael, aber irgendjemand wird ihn vielleicht erkennen. Ich werde eine Skizze in Umlauf bringen.«
Galen nickte und ging mit Dmitri hinaus. »Jessamy wird in ihr Haus zurückkehren wollen.« Dieser Ort trug überall ihre Handschrift, von den Blumenkaskaden über die dicken, cremeweißen Teppiche bis zu den Kinderzeichnungen, die sie liebevoll gerahmt und aufgehängt hatte. Einen Ort, den sie sich so zu eigen gemacht hatte, ließ eine Frau nicht ohne Weiteres zurück. »Ich habe ihr versprochen, hier sauber zu machen.«
»Ich werde mich darum kümmern, aber es wird erst morgen fertig sein.« Er sah Galen aus seinen dunklen Augen an. »Jemand muss bei ihr bleiben.«
»Ja.« Er brauchte sich nicht für diese Aufgabe zu melden, denn sie beide wussten, dass er keinen anderen Krieger in ihrer Nähe dulden würde, wenn sie so verwundbar war. »Hast du keine Bedenken, dass ich hinter all dem stecken könnte?« Er war die Unbekannte in dieser Gleichung, der Fremde.
»Nein.« Ein einziges, entschlossenes Wort. »Du bist nicht der Typ Mann, der eine schutzlose Frau angreifen würde. Und«, fügte der Vampir hinzu, »wenn du das hier eingefädelt hättest, würde sie jetzt nicht mehr atmen, sondern hinge in blutige Fetzen gerissen am Hang dieser Schlucht.«
Galen wand sich innerlich, aber Dmitri hatte in beiden Punkten recht. »Ich werde dafür sorgen, dass ihr niemand zu nahe kommt.« Ob sie diesen Schutz nun begrüßen würde oder nicht.
4
Die Sonne kroch gerade über den Horizont, als Galen zu Jessamy zurückkehrte. In der Hand trug er eine kleine Tasche mit einigen ihrer Sachen. »Mein Quartier«, schlug er vor, »wäre der sicherste Platz für dich.« Die Lage ihrer derzeitigen Behausung verursachte ein Kribbeln in seinem Nacken.
Sie jedoch schüttelte den Kopf und sagte: »Alia hat mir bereits ein Zimmer angeboten.«
»Sie hat ein Kind.« Er hatte die Spielsachen gesehen, die auf dem Dach verstreut lagen – der perfekte Spielplatz für einen neugierigen
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