Dunkle Visionen
wandte Darryl sich ab und ging zu seinem Wagen zurück. Kaila stieg ebenfalls in ihr Auto ein, um Justin abzuholen. Sie fragte sich, warum sie sich so seltsam beklommen fühlte.
Sie erschauerte.
„Was ist, Mommy?“ fragte Shelley.
„Nichts, Baby, gar nichts.“
Sie fuhr los.
Bei Justins Vorschule ließ sie die beiden Kleinen in ihren Kindersitzen und entfernte sich etwa zehn Schritte vom Auto, bereit, Justins Lehrer zu winken, sobald er in der Tür auftauchte.
Ihr Sohn schenkte ihr ein breites Lächeln, als er schließlich angetrabt kam. Sie lächelte zurück. Gott, wie sehr sie ihre Kinder liebte. Sie war so glücklich, und doch hätte sie um ein Haar alles weggeworfen.
„Na, mein Großer?“ sagte sie und verstrubbelte ihm seine Haare. „Wie war’s in der Schule?“
„Gut“, sagte er und kletterte auf den Rücksitz.
Kaila fuhr zu ihrem Haus zurück und stieg aus. „Justin, pass eine Sekunde auf deine beiden Geschwister auf. Ich schließe nur rasch auf“, wies sie ihren Sohn an und ging dann zum Haus. „Verdammt!“ brummte sie einen Augenblick später verärgert. Sie hatte die Milch vergessen. Und zu knabbern hatte sie auch nichts im Haus. Wenn Madison nachher kam, um Carrie Anne abzuholen, und warten musste und Kyle womöglich auch noch mitkam, hatte sie gar nichts anzubieten. Sie sollte wohl besser noch einmal zurückfahren.
Als sie die Tür ihres Minivans öffnete, kicherte Justin vergnügt in sich hinein.
„Was ist los?“ fragte sie.
„Nichts.“
„Also, Kinder, ich fürchte, wir müssen noch mal kurz in den Supermarkt.“ Sie rutschte hinters Steuer, und die Kinder prusteten los.
„Was gibt es denn so Lustiges?“ fragte Kaila und legte den Gang ein.
Sie drehte sich um, und dann sah sie es selbst.
Zuerst war sie nicht erschrocken, nur völlig verdattert.
Gleich darauf regte sich die Angst.
Irgendwann auf dem Weg zu Kaila wurde Madison plötzlich seltsam beklommen zumute, und ein Gefühl von Dringlichkeit stellte sich ein. Sie sagte sich, dass es keinen Grund zur Panik gebe, dass Kaila die Kinder abgeholt hätte und dass sie alle bereits zu Hause wären.
Dennoch fuhr sie an den Straßenrand, zog sich ihre Handtasche vom Beifahrersitz herüber und begann nach ihrem Handy zu kramen. Sie bekam es nicht gleich zu fassen, deshalb kippte sie den Inhalt auf dem Sitz aus. Sie schnappte sich das Telefon und wählte Kailas Nummer. Bestürzt lauschte sie dem Anrufbeantworter. Noch bestürzter war sie, als sie gleich darauf das Warnsignal hörte.
Sie nahm das Handy vom Ohr, schaute es an und fluchte. Ihre Batterien waren leer.
Sie warf das Telefon verärgert und zunehmend alarmiert neben sich auf den Beifahrersitz.
Sie war noch etwa zwei Häuserblocks vom Haus ihrer Schwester entfernt, als sie die höhnische Stimme hörte – oder spürte.
Was könnte schlimmer sein, als um sein eigenes Leben fürchten zu müssen? Womöglich um das Leben seines Kindes fürchten zu müssen?
Sie hörte die Stimme so deutlich, dass sie sich in ihrem Wagen umschaute.
Sie war allein. Mutterseelenallein.
Panik stieg in ihr auf. Sie startete und fuhr aus der Parklücke heraus, wobei sie den Van einer Firma, die Windeln ins Haus lieferte, schnitt. Der Fahrer drückte wütend auf die Hupe, aber sie ignorierte es und trat das Gaspedal noch weiter durch.
Als sie in die Straße zu Kailas Haus einbog, sah sie deren Minivan vor sich, der eben auf die Straße, die zum Expressway führte, abbog.
„Kaila!“ schrie Madison aus dem Fenster. Sie wusste, dass es zwecklos war.
Der Minivan verringerte seine Geschwindigkeit nicht. Tatsächlich fuhr Kaila wie eine Verrückte. Madison raste hinterher. Sie ließen das Viertel, in dem ihre Schwester wohnte, hinter sich und waren bald auf der Schnellstraße. Sie überholte ein paar Autos und fuhr so rücksichtslos wie noch nie. Sie konnte es kaum glauben, dass Kaila mit den Kindern im Auto derart raste.
Aber gleich darauf wusste sie den Grund. Sie hörte die Stimme erneut.
Was könnte schlimmer sein, als um sein Leben fürchten zu müssen? Womöglich um das Leben seines Kindes fürchten zu müssen?
Sie hatte es in ihrem Traum gesehen.
Sie wusste – lange bevor sie nach Westen abbogen –, dass sie den Tamiami Trail in Richtung Everglades nehmen würden.
Kailas Mann Dan stand in seiner Einfahrt und kratzte sich das Kinn, als Kyle seinen Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen brachte. „Wo sind die beiden Frauen?“
„Die beiden Frauen? Keine Ahnung. Wollte
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