Dunkle Visionen
Stiefbruder.“
„Wie kann jemand früher dein Bruder gewesen sein?“ fragte Carry Ann höchst verwundert.
Madison öffnete den Mund, um zu antworten, dann zuckte sie mit den Schultern. „Na ja, sein Dad und meine Mom waren verheiratet. Deshalb waren wir das, was man Stiefbruder und Stiefschwester nennt. Aber du weißt ja, dass meine Mommy gestorben …“
„Und im Himmel ist“, ergänzte Carrie Ann.
„Und im Himmel ist“, stimmte Madison weich zu. „Und nach ihrem Tod … haben wir uns ziemlich aus den Augen verloren. Auf jeden Fall heißt er Kyle. Und du kennst Kyles Daddy, Roger. Und seinen Bruder Rafe kennst du auch.“
„Er ist Onkel Rafes Bruder?“ erkundigte sich Carrie Anne erfreut.
Rafe konnte mit Kindern wunderbar umgehen. Madison hatte sich oft gefragt, warum Kyles älterer Bruder nie geheiratet und keine eigenen Kinder hatte. Aber im Grunde genommen war es kein Wunder. Rafe hatte eben – wie alle anderen der Familie auch – zu viele Ehen in die Brüche gehen sehen.
Er hatte ein paar Jahre in New York gelebt und in dieser kurzen Zeit an der Wall Street ein Vermögen gemacht. Jetzt wohnte er in Miami, wo er kräftig an der Börse spekulierte und sich als Unternehmer betätigte.
„Genau gesagt ist er Onkel Rafes Halbbruder“, sagte sie. „Aber wir sagen normalerweise immer einfach Bruder und Schwester, weil bis auf Tante Kaila und mich alle Halbschwestern und Halbbrüder oder Stiefschwestern und Stiefbrüder sind.“ Sie sah, dass sie ihre Tochter verwirrt hatte, und lächelte. „Honey, Kyle ist zwar verwandt mit Onkel Rafe, aber er ist trotzdem anders.“
„Ist er nicht lieb?“ fragte Carrie Anne mit einem Stirnrunzeln.
„Doch, natürlich, aber eben anders. Du weißt schon, Tante Kaila ist ja auch anders als ich.“
Carrie Anne schüttelte entschieden den Kopf. „Ihr seht doch ganz gleich aus, Mommy.“
„Richtig – aber wir sind trotzdem verschieden.“
„Du bist anders.“
„Ja.“
„Du bist lustig. Meistens. Tante Kaila nicht. Sie ist immer so traurig.“
Madison schaute ihre Tochter nachdenklich an. Sie war meistens lustig? Das Leben hielt doch immer wieder Überraschungen bereit. Aber es stimmte, dass Kaila in letzter Zeit keinen sonderlich glücklichen Eindruck gemacht hatte. Madison fragte sich, was bei ihr so schief lief, dass es selbst einem fünfjährigen Kind auffiel.
„Sei nicht albern“, erwiderte sie. „Tante Kaila hat ein wunderschönes Zuhause, einen supernetten Mann und reizende kleine Kinder wie du eines bist. Sie ist nicht traurig, sie ist glücklich.“
„Das glaube ich nicht“, widersprach Carrie Anne entschieden, dann ließ sie das Thema abrupt fallen. „Hurra, wir fahren gleich Boot!“ krähte sie begeistert.
„Also schön … dann zieh jetzt deinen Badeanzug an, den neuen mit dem passenden Kleidchen, denn …“
„Ich weiß, ich weiß, die Sonne kann mörderisch sein“, plapperte sie etwas nach, das sie anscheinend schon tausendmal gehört hatte.
Madison nickte. „Ich mache mich auch fertig und bin in ein paar Minuten bei dir.“
„Du musst aber auch deinen neuen Badeanzug anziehen, Mommy“, befahl Carrie Ann. „Mit dem passenden Kleid.“ Carrie Ann hatte mit ihren fünf Jahren schon einen ausgeprägten Sinn für Kleider. Sie achtete auf ihre Sachen und liebte es, Madison gute Ratschläge zu erteilen.
„Na schön“, stimmte Madison zu. „So, und jetzt beeil dich.“
Fünfzehn Minuten später hatte sie ihren neuen Zweiteiler in Türkis und Gold an, zusammen mit einem ärmellosen kurzen Kleid, und in der Hand trug sie eine große Tasche, in der sich Schnorchel befanden sowie Tauchermasken, Sonnenschutzcreme und Kleider zum Wechseln für sie und Carrie Anne, falls die Sonne und das Salz unerträglich werden sollten. Immerhin gab es auf dem Boot eine Dusche, sodass sie zumindest unter dem Salz nicht allzu sehr würden leiden müssen. Sie hatte auch mehrere Bücher dabei, ihren eigenen Walkman und Ohrstöpsel und Carrie Annes Kassettenrecorder sowie Kassetten.
Nur für den Fall, dass ihnen allen der Gesprächsstoff ausgehen sollte.
Dann marschierte sie Hand in Hand mit Carrie Ann den Flur hinunter hinaus in den Patio.
Zuerst sah sie nur ihren Vater. Er war zweifellos ein außergewöhnlicher Mann mit ein paar Hemingwayschen Qualitäten. Sein volles, silbrig schimmerndes Haar war fast schulterlang, und sein kantiges Gesicht wurde von einem silbergrauen Bart eingerahmt. Er trug seine Alltagskleidung – abgeschnittene
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