Dunkle Visionen
männliches, sehr gutes Gesicht. Lass dir das von einer Künstlerin gesagt sein.“
Madison musste lachen. „Und du meinst wirklich, das gute Aussehen wiegt alles andere auf?“
„Du bist eine junge Frau. Willst du vielleicht mit einem zerknitterten alten Mann schlafen?“
„Nein, ich will nicht mit einem zerknitterten alten Mann schlafen – bis ich eine zerknitterte alte Frau bin. Aber jetzt mal Spaß beiseite, Michelle, Frauen müssen nicht mit Männern schlafen, nur weil sie einen schönen Körper haben. Dazu gehört mehr, Verzauberung, Sehnsucht, Verlangen …“ Michelle schaute sie mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen an. Madison stieß einen langen Seufzer aus. „Ich habe bisher noch nicht mal im Traum daran gedacht, mit einem Kerl nur deshalb Liebe zu machen, weil er einen schönen Körper hat.“ Es war nur ein ganz kleines bisschen geschwindelt.
„Dann bist du wahrscheinlich die einzige Frau auf der ganzen Welt, der beim Anblick eines schönen Männerkörpers nicht schon mal die Fantasie durchgegangen ist. Ah, aber du sehnst dich nach Liebe. Dummes Mädchen. Du willst dich verlieben. Aber ich warne dich. Wir Frauen,
mais oui
, wollen uns immer verlieben. Wir wollen Romantik. Männer wollen Sex. Guten Sex. Frauen haben Gefühle, und Männer werden von Urinstinkten getrieben.“ Sie zerschnitt mit ihren dunklen langen Fingern temperamentvoll die Luft. „Männer denken mit einem gewissen Körperteil. Sie schauen sich an, was ein Frauenkörper ihnen zu bieten hat. Liebe ist gut. Doch wenn du dich verlieben willst … nun, Liebe ist keine einfache Sache. Sex ist leicht. Vielleicht zu leicht für manche Leute, aber im Augenblick, für dich?“ Sie hob lächelnd eine Augenbraue. „Sei wagemutig,
chérie
. Du magst vielleicht aussehen wie eine Barbiepuppe,
oui?
Aber du bist ein Mensch aus Fleisch und Blut, und du musst leben und atmen und Liebe machen, nicht wahr?“ Wieder lächelte sie. „Auch wenn wir im Elektronikzeitalter leben, geht doch nichts über einen Mann aus Fleisch und Blut. Besonders nicht für eine Barbiepuppe.“
„Was soll denn das heißen?“
„Nur Gutes. Dass du zurückhaltend bist. Du verbringst deine Zeit mit der Familie, mit der kleinen Carrie Anne. Ich versuche dir nur zu sagen, dass du deine Chance nutzen sollst. Man muss das Leben genießen, und dafür muss man ab und zu auch mal etwas wagen.“
„Manchmal“, sagte Madison langsam, „ist es nicht gut, seine Chance zu nutzen. Man kann andere Menschen verletzen.“
„Und
du
kannst verletzt werden. So ist das Leben. Der Schmerz kann der beste Lehrer sein. Er hat seinen Sinn. Aber wer leidet, kann auch glücklich sein. Nicht wahr,
ma chérie
?“ Lächelnd wartete Michelle auf eine Antwort.
„Michelle, er ist der falsche Mann für mich. Er hält mich für eine Hexe.“
„Hexen können gut sein. Und sehr sexy.“
„Michelle, du bist ein hoffnungsloser Fall. Und du verstehst mich nicht. Kyle und ich haben eine … Vergangenheit.“
„Nein,
chérie
, du verstehst nicht. Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft liegt vor dir, und die Gegenwart will gelebt werden.“
Lächelnd verließ Michelle das Strandhaus und schloss leise die Tür hinter sich.
Madison ging zum Fenster und schaute hinaus. Michelle sagte etwas zu Kyle, sie lachte ihr perlendes Lachen.
„Flirt!“ murmelte Madison und schüttelte den Kopf, während sie die Freundin beobachtete.
Es war nahezu acht Uhr abends, und die leuchtenden Farben, Orange-, Blutrot, Mauve-, Pink-, Blau- und Goldtöne in allen Schattierungen, die sich über den Himmel zogen, begannen langsam zu verblassen.
Kyle betrachtete den Sonnenuntergang ebenfalls, wie sie sah. Er sprach mit Michelle, aber er schaute zu, wie sich der Himmel verfärbte. Früher, als sie noch Kinder gewesen waren, hatten sie manchmal in der Stille der Spätnachmittage gesessen und zugeschaut, wie die Sonne im Meer versank. Sie wusste, dass er die spektakulären Sonnenuntergänge auf den Keys ebenso liebte wie sie selbst. Wie hatte er sich nur so lange von zu Hause fern halten können?
Sie schüttelte den Kopf und griff, verärgert über ihren Anfall von Nostalgie, nach ihrer Handtasche. „Warum arbeitet der Mann nicht von neun bis fünf?“ brummte sie ungehalten in sich hinein. „Wer zum Teufel gibt ihm die Erlaubnis, mitten in einem Fall hier aufzukreuzen?“
Madison verließ das Strandhaus und versuchte sich einzureden, dass sie kühl und gefasst genug war, den anderen wieder unter die Augen
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