Dunkle Visionen
zu treten.
„Wir sind fertig“, sagte Hector gut gelaunt. „George hat so gut wie alles eingepackt.“ Sie stand neben ihm, während sie warteten, und beobachtete, wie Kyle sich ein paar Schritte entfernt mit Michelle unterhielt, bis er sich entschuldigte und von seinem Handy aus irgendjemanden anrief.
George hatte mittlerweile die Ausrüstung verstaut, und dann gesellten er, Michelle und Jaime sich zu Madison und Hector. George erzählte einen Witz, aber Madison entging die Pointe, weil sie nicht zugehört hatte. Ihr war irgendwie unbehaglich zumute, fast so, als ob sie beobachtet würde.
Sie drehte sich um und suchte den Strand hinter sich mit Blicken ab, dann schaute sie auf das Strandhaus vor sich; die Blätter der Bäume, die zwischen den anderen Häusern standen, raschelten leise im Abendwind. Sie konnte nichts Verdächtiges entdecken, aber sie wurde dennoch das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht los.
Der Privatstrand war eingezäunt und wurde bewacht, sodass es mehr als unwahrscheinlich war, dass irgendjemand sie beobachten konnte.
Und doch hatte sie auf den Armen noch immer eine Gänsehaut.
Kyle beendete sein Telefonat, verstaute sein Handy wieder in seiner Gesäßtasche und gesellte sich dann zu ihnen.
„So, und wohin gehen wir jetzt?“ fragte Jaime.
Jeder hatte einen anderen Vorschlag. Bis auf Madison.
Ihr war es egal, wohin sie gingen, Hauptsache sie kam von hier weg. Doch selbst als sie endlich im Auto saß, gelang es ihr nicht, das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, abzuschütteln.
Kaila war hundemüde, sie fühlte sich seelisch und körperlich ausgelaugt. Dans Blumen waren eine schöne Geste gewesen – aber ein schwacher Ersatz für ihn. Sie hatte die Blumen bekommen …
Und dann einen Telefonanruf. Er müsse für ein paar Tage verreisen, hatte er gesagt. Es täte ihm so Leid. Er würde es wieder ausgleichen. Er liebe sie.
Ja, ja, ja.
Anna war zu Hause geblieben, weil sie krank war, und so hatte sich Kaila Stunde um Stunde allein mit den Kindern abmühen müssen, sie hatte verschütteten Saft und Erbrochenes aufgewischt, Streitereien geschlichtet, das Chaos im Kinderzimmer beseitigt und, und, und. Sie erinnerte sich den ganzen Tag daran, dass Kinder solche Dinge eben machten, dass sie ihre Kinder liebte, dass sie sich Kinder gewünscht hatte.
Sie hatte nur nicht geplant, sie allein großzuziehen.
Gegen acht waren sie endlich alle im Bett. Sie ging in ihr Schlafzimmer, wobei sie sich im Laufen bereits die Hose aufzuknöpfen begann. Sie war normalerweise sehr zuverlässig und genau. Kyle hatte sie ermahnt, vorsichtig zu sein, und sie liebte Kyle, sie wusste, dass er sie ebenfalls liebte und dass er um ihre Sicherheit besorgt war. Aber sie war müde. Und so vergaß sie, die Vorhänge zuzuziehen und die Jalousien herunterzulassen.
Sie ließ ihre Jeans, das T-Shirt und den BH einfach im Schlafzimmer auf dem Boden liegen – sie konnte den Geruch von Erbrochenem keine Sekunde länger ertragen. Sie drehte die Dusche auf, dann steckte sie sich die Haare hoch und zog sich eine Duschhaube darüber und wartete, bis das Wasser warm wurde. Sie trat unter den Duschstrahl, spürte die entspannende Wirkung des Wassers, dann drehte sie am Wasserhahn, um die Dusche noch ein bisschen wärmer zu machen. Gott, fühlte sich das gut an. Wenn sie nicht gefürchtet hätte einzuschlafen und zu ertrinken, hätte sie anschließend noch ein Schaumbad genommen. Aber es war auch schon herrlich genug, unter dem heißen Duschstrahl zu stehen und das Wasser auf sich niederprasseln zu spüren.
Doch dann …
Sie glaubte, etwas gehört zu haben. Als ob die Glastüren, die das Schlafzimmer von dem Patio mit dem Pool abtrennten, aufglitten.
Trotz des heißen Wassers fror sie.
Und wartete, nach draußen lauschend …
Es war ein langer Tag für Jassy gewesen, in vielerlei Hinsicht dramatisch, aufregend, erschreckend.
Sie war manchmal über sich selbst überrascht, dass sie eine Menge Mitgefühl mit den Opfern eines Gewaltverbrechens empfinden und doch gleichzeitig mit der kühlen, leidenschaftslosen Präzision des Wissenschaftlers eine Obduktion durchführen konnte. In einem Interview war sie einmal gefragt worden, ob sie sich nicht schuldig fühle, wenn sie die Körper derjenigen, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren, auch noch aufschnitte. Sie hatte dem jungen Reporter versichert, dass sie, obwohl es ihr oft Leid tat, ein Opfer obduzieren zu müssen, sich nicht im Mindesten schuldig fühlte. Die
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