Dunkle Wasser
Bekannten.
»Ja, aber Kitty ist eigentlich Baptistin«, flüsterte er zurück.
»Kitty hofft, den rechten Glauben zu finden, und probiert alle Religionen mindestens einmal aus. Zur Zeit tut sie so, als sei sie Katholikin. Aber nächste Woche treten wir vielleicht dem jüdischen oder dem methodistischen Glauben bei. Einmal haben wir sogar zu Allah gebetet. Sag aber nichts, was sie blamieren konnte. Die Tatsache, daß sie überhaupt in die Kirche geht, wundert mich schon.«
Mir gefiel das dunkle Gotteshaus; die brennenden Kerzen in den Nischen und neben den Heiligenstatuen und der Priester, der ein bodenlanges Gewand trug. Ich verstand nicht, was er sagte, aber ich vermutete, er sprach über die Liebe Gottes zu den Menschen und nicht über seinen Zorn. Ich kannte keines der Lieder, die alle sangen, aber ich versuchte mitzusingen, während Kitty ihre Lippen tonlos bewegte. Cal machte es ebenso wie ich.
Bevor wir wieder gingen, mußte Kitty auf die Toilette. Das war der richtige Augenblick, meinen Brief aufzugeben. Cal sah mich traurig an. »Du schreibst jetzt schon nach Hause?« fragte er, als ich zurückkehrte. »Ich dachte, es gefällt dir hier.«
»Ja. Aber ich muß herausfinden, wo Tom, Unsere-Jane und Keith sind. Fanny geht es sicherlich gut bei Reverend Wise.
Ich muß den Kontakt mit meiner Familie aufrechterhalten, sonst leben wir uns doch ganz auseinander. Besser, ich fange gleich damit an. Die Leute ziehen ja immer wieder um…
Vielleicht finde ich dann meine Geschwister nie wieder, wenn ich zuviel Zeit vergehen lasse.«
Sanft hob er mein Gesicht zu sich empor. »Wäre es eigentlich so schlimm, wenn du deine alte Familie vergessen würdest und deine neue akzeptiertest?«
Meine Augen füllten sich mit brennenden Tränen. Ich versuchte sie zu unterdrücken. »Cal, ich finde dich wunderbar, und Kitty… ich meine Mutter… meint es gut… aber ich liebe Tom, Unsere-Jane und Keith… sogar Fanny. Wir sind Blutsverwandte und haben so viel zusammen durchgemacht, das uns mehr aneinander bindet als gemeinsam verlebte glückliche Zeiten.«
In seinen hellbraunen Augen stand Mitgefühl. »Soll ich dir dabei helfen, deine Geschwister zu finden?«
»Würdest du das tun?«
»Ich möchte dir gerne helfen. Gib mir alle Informationen, die du hast, und ich werde mein Bestes versuchen.«
»Dein Bestes für was?« warf Kitty ein und sah uns böse an.
»Über was flüstert ihr beiden denn?«
»Ich versuche gerade mein Bestes, daß Heaven sich immer wohl fühlen wird in ihrem neuen Heim, das ist alles«, sagte Cal leichthin.
Sie sah immer noch grimmig drein, als wir zurück zu dem weißen Wagen gingen und zum Essen fuhren – es war wieder ein Schnellimbiß, bei dem man nicht sein gutes Geld verschwendete. Cal wollte ins Kino gehen, aber Kitty mochte keine Filme. »Kann’s nicht leiden, im Dunklen mit so vielen Fremden zu sitzen«, nörgelte sie. »Außerdem muß das Kind rechtzeitig ins Bett, morgen beginnt die Schule.«
Schon das Wort Schule machte mich glücklich. Eine große Schule in der Stadt – wie würde die sein?
An diesem Abend sahen wir wieder fern, und zum dritten Mal mußte ich zwischen den beiden im Bett liegen. Diesmal hatte sich Kitty ein rosa Nachthemd mit schwarzer Spitze angezogen. Cal sah nicht einmal hin. Er schlüpfte ins Bett und schmiegte sich an mich. Er hielt mich in seinen starken Armen und legte sein Gesicht auf meine Haare. Ich war zutiefst erschrocken und überrascht.
»Geh sofort aus dem Bett!« kreischte Kitty. »Ich dulde es nicht, daß ‘n junges Ding meinen Mann verführt! Cal, nimm den Arm weg!«
Als ich hinabging, um endlich allein auf dem Sofa zu schlafen, bildete ich mir ein, ich hörte ihn kichern. Ich war vollbepackt mit Leintüchern, Decken und einem wunderbar weichen Daunenkissen. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben ein Bett ganz für mich allein. Und ich hatte ein Zimmer ganz für mich, das von bunten Keramiktieren überquoll. Es war ein Wunder, daß ich überhaupt einschlafen konnte.
Kaum hatte ich die Augen geöffnet, dachte ich an meine neue Schule, wo es bestimmt Hunderte oder gar Tausende von Schülern gab, von denen ich keinen einzigen kannte. Obwohl meine Kleider jetzt viel besser aussahen als die früheren, so hatte ich doch schon genug in Atlanta gesehen, um zu wissen, daß dies nicht die Kleider waren, die die Mädchen üblicherweise in meinem Alter trugen. Es waren billige Imitationen von besseren Kleidern, Röcken, Blusen und Pullovern. Lieber Gott,
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