Dunkle Wasser
zurückgelassen…«
Das war, weiß Gott, keine Lüge.
»Ich verstehe. Vielleicht ist euer Vater drinnen und macht sich Sorgen, wo ihr geblieben seid. Wenn er da ist, möchte ich gerne mit ihm sprechen.«
Fanny steckte wieder ihren Kopf aus der Tür. »Vater ist nicht hier, Miß Deale. Er ist krank und…«
»Vater war krank«, unterbrach ich hastig. »Ihm geht es schon viel besser, und er wird morgen wieder zu Hause sein.«
»Das ist gut zu hören.« Sie lächelte und drückte mich so fest an sich, daß ihr Parfüm mir in die Nase stieg und ihre Haare mein Gesicht kitzelten. »Du bist so tapfer und gut, aber viel zu jung, um so eine schwere Last zu tragen. Ich komme morgen nach der Schule vorbei und bringe ein paar Weihnachtsgeschenke, die ihr unter den Weihnachtsbaum legen könnt.«
Ich sagte ihr nicht, daß wir keinen Weihnachtsbaum hatten.
»Das kann ich nicht annehmen«, protestierte ich schwach.
»Doch, das kannst du. Ich komme morgen gegen halb fünf.«
Wieder steckte Fanny ihren Kopf durch die wackelige Tür.
Offensichtlich hatte sie gelauscht. »Wir warten auf Sie; bitte vergessen Sie uns nicht.«
Miß Deale lächelte und wollte etwas sagen, änderte ihre Meinung aber im letzten Augenblick und berührte nur kurz meine Wange. »Du bist ein wunderbares Mädchen, Heaven. Es wäre eine schreckliche Vorstellung für mich, daß du bei deiner Begabung nicht die Highschool abschließen solltest.«
Auf einmal ertönte ein leises Stimmchen. Es war Keith, von dem ich das nie erwartet hätte. »Ja«, flüsterte er und klammerte sich an meinem Rock fest, »‘s tut Unserer-Jane leid.«
»Das weiß ich.« Miß Deale streichelte die Wange von Unserer-Jane, dann zerzauste sie Keith zärtlich sein hübsches Haar und fuhr zurück.
In der Hütte war es beinahe so kalt wie draußen, und Tom legte etwas Holz nach. Ich setzte mich hin und wiegte Unsere-Jane in den Armen. Dabei fühlte ich, wie der kalte Wind durch die Wände drang und durch die geborstenen Bodenplanken und schlecht eingefügten Fensterrahmen pfiff. Zum ersten Mal in meinem Leben kam mir die Hütte völlig unwirklich vor. Ich sah das Restaurant mit seinen weißen Wänden vor mir, den dunkelroten Teppich, die schönen Möbel. Als ich darüber nachdachte, daß ich dort gerade die beste Mahlzeit meines Lebens gegessen hatte, wurde mir bewußt, wie elend es uns ging, und ich fing an zu weinen.
Heute abend würde ich auf den Knien das längste und aufrichtigste Gebet meines Lebens sprechen. Ich würde Stunden beten. Diesmal mußte Gott mich erhören und uns Vater nach Hause schicken.
Und am nächsten Tag war ich wieder schon bei Tagesanbruch auf den Beinen, stand singend am Herd, bereitete alles für Tom vor und machte mich dann gleich an die Arbeit, das Haus so sauber und ordentlich wie möglich herzurichten, wobei ich Fanny bat, mir zu helfen.
»‘s wird nicht schöner«, murrte sie. »Kannst schrubben, abstauben und fegen, ‘s wird immer stinken.«
»Nein, wird es nicht. Nicht wenn wir beide mit der Arbeit fertig sind; ‘s wird hier richtig glitzern und glänzen – also mach dich dran, du Faultier, und erledige deinen Teil, sonst bekommst du nichts!«
»Sie wird mich nicht übergehen, das weiß ich ganz genau!«
»Willst du, daß sie sich auf einen schmutzigen Stuhl setzt?«
Das wirkte. Fanny bemühte sich, aber nach knapp einer Stunde ließ sie sich auf ihre Schlafdecke fallen, rollte sich herum und schlief weiter. »Damit die Zeit schneller vergeht«, murmelte sie. Ich sah, daß auch Großvater in seinem Schaukelstuhl döste und auf das Wunder namens Miß Deale wartete, das um halb fünf Uhr Nachmittag erscheinen sollte.
Es wurde halb fünf, und keine Miß Deale kam.
Es war schon beinahe dunkel, als Tom schließlich zurückkam
– mit einem kleinen Brief von Miß Deale.
Meine liebe Heaven,
als ich gestern abend nach Hause kam, lag ein Telegramm unter meiner Tür. Meine Mutter liegt schwerkrank im Krankenhaus. Ich muß leider sofort zu ihr fliegen. Falls Du mich brauchst, bitte rufe mit Rückruf die Nummer an, die ich unten aufgeschrieben habe.
Ich werde Euch einige Sachen schicken, die Ihr vielleicht brauchen könnt. Bitte, nimm die Geschenke von mir an; ich liebe Euch wie meine eigenen Kinder.
Marianne Deale
Sie hatte eine Telephonnummer aufgeschrieben – und dabei wohl vergessen, daß wir überhaupt kein Telephon besaßen. Ich sah Tom seufzend an. »Hat sie sonst noch irgend etwas gesagt?«
»Viel. Wollt’ wissen, wann Vater
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