Dunkle Wasser
Regen und Grün und etwas Zarterem – der Verheißung von Frühling vielleicht? Ich steckte die Nase tiefer hinein. Nicht Verheißung. Hoffnung. Sie dufteten nach Hoffnung.
Und ohne an den Blüten in meiner Schürze zu riechen, wusste ich, dass ihr Duft anders war. Sie dufteten nach Mut.
Ich musterte Keiths durchnässte Army-Jacke und seine verdreckten Doc Martens.
»Du bist aber nicht den ganzen Weg gelaufen, um mir die hier zu bringen, oder?«, fragte ich. Keith wohnte mit seiner Mom und seinem Stiefdad in einer Art Hazienda-Villa, auf einem Hügel hinter der Forststation. Sie hatten Pferde und einen bildschönen Golden Retriever. Obschon Keiths Stiefdad
Phil’s Tiki Hut
, die schäbigste Bar im Kaskadengebirge, betrieb, lebten die LaMarrs wie Großgrundbesitzer. Keiths Mom trug Schnürsenkelkrawatten und teure,gegürtete Cardigans aus Navajo-Decken, obwohl sie eindeutig keine Indianerin war.
»Nee, ich war sowieso in der Gegend, um nach Kiefernzapfen zu suchen«, sagte er.
»Kiefernzapfen«, wiederholte ich.
Er streifte den schwer bepackten Rucksack ab und zog ihn oben am Reißverschluss auf. Tatsächlich, voller Zapfen. Riesige, wie von Ponderosa-Kiefern, mit gefährlich aussehenden Dornen. »Ach so«, sagte ich. Mir war wieder eingefallen, dass Keiths Mom ›Objektkunst‹ herstellte, die sie im
Victorian Cottage
am Highway 22 verkaufte. Sie klatschte ein Paar Glotzaugen auf die Zapfen und steckte sie in verschiedene Outfits und Rollen: Kiefernzapfen mit Angel, Kiefernzapfen auf dem Klo, Kiefernzapfen beim Zahnarzt. Ich hielt das nicht für Kunst, aber sie sollten einen Fuffi pro Stück kosten.
»Toll, dass du deiner Mutter hilfst«, sagte ich. Das meinte ich ernst. Es gefiel mir, dass er sich tough anzog, die Frauen in seinem Leben jedoch zuvorkommend behandelte. Und wie ich den Duft seiner Blumen roch, wollte ich auch eine von ihnen sein.
Schließlich bemerkte er doch noch meine roten Augen und meine Triefnase. Warum sonst hätte er plötzlich die Flucht ergriffen? Eilig zog er den Reißverschluss an seinem Rucksack zu. »Ich muss los. Wir sehen uns in der Schule!« Er verschwand durch die Hintertür und sprengte um die Ecke wie ein Maultierhirsch, und ich blieb mit der Frage allein, was er wohl gesagt hätte, wenn ich glatte Haare,größere Brüste oder mehr Schminke im Gesicht gehabt hätte oder nicht diesen kakibraunen Sack am Leib und solche Turnschuhtreter an den Füßen.
Stattdessen ließ mich wieder jemand zurück und wieder fiel eine Tür zu.
Ich stand noch immer da, als Sheriff McGarry zu mir in den Wintergarten kam. Sie ließ sich in den Korbschaukelstuhl fallen, der stark unter ihr nachgab. Noch etwas, das von innen verrottete. Sie sah auf die Lupinen in meiner Hand. »Sind die von deinem Freund?«
Ich hatte ganz vergessen, dass ich sie noch in der Hand hielt. Ich steckte sie in eine andere Schürzentasche, weit weg von Karens Blüten.
Als ich wieder aufsah, blickte Sheriff McGarry geistesabwesend aus dem Fenster. Sie wirkte müde, wie Mom an dem Tag, als Dad zusammengebrochen war, und wie an jedem Tag, wenn sie sich unbeobachtet fühlte.
»Monsterkeks?«, fragte ich.
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Setz dich bitte mal, Ronnie.«
Ich setzte mich hin und das Sofa unter mir ächzte. Sheriff McGarry beugte sich vor und legte die Finger aneinander. Sie hatte keinen Notizblock dabei und auch keinen Deputy, der für sie mitschrieb.
»Wie oft gehst du alleine laufen?«
»Jeden Samstag«, sagte ich.
»Hast du einen Laufpartner? Jemanden, der mitkommen könnte?«
»Nur, wenn das Hunderudel zählt«, sagte ich zögernd.
Sie zupfte sich etwas von der Lippe. »Ach ja. Die hab ich ganz vergessen. Trotzdem, du solltest vielleicht jemanden bei dir haben, der groß ist. Wie steht’s mit Tomás? Würde der mitlaufen?«
»Der trainiert für die Play-offs«, erwiderte ich. »Sein Coach hat gesagt, er soll kein Ausdauertraining machen. Aber was ist denn? Warum fragen Sie?«
Sie antwortete nicht.
Und da wusste ich es. In dem einen unbedachten Augenblick konnte ich ihr ansehen, weshalb sie so müde war.
Sie glaubte nicht, dass Karens Tod ein Unfall gewesen war. Und nun wurde es auch mir klar. Jemand hatte aus Karens Kopfhaut eine Falltür gemacht und ihr dann den Kopf unter Wasser gehalten und dabei zugesehen, wie sie ertrank.
»Oh Gott«, sagte ich und mir wurde wieder flau. Wer konnte so etwas getan,
Karen
so etwas angetan haben? Auf einmal begriff ich, warum Menschen Ungeheuer und
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