Dunkle Wasser
Olaf, dachte ich, dem in Minnesota? Die haben einen tollen Chor. Und weißt du, was diese Schülerberaterin zu mir sagt? Sie hat gesagt: ›Letzte Woche haben wir noch Infomaterial vom St. Olaf bekommen, aber das haben wir weggeworfen. Wir schicken nie jemanden ans St. Olaf. Wie wär’s denn mit der University of Oregon?‹ Kannst du dir das vorstellen? Ich an der U of O? Wahrscheinlich hat sie’s gut gemeint. Sie hat an das Leichtathletikangebot gedacht. Aber mal ehrlich. Die U of O ist riesig. Ich mein, was ist denn mit der Seminargröße? Und mit Geisteswissenschaften?«
Das Tier vor mir war still. Bildete ich mir das ein oder hatte es den Kopf auf die Seite gelegt? Es sah fast so aus, als würde es mich mustern.
»Aber das ist noch nicht das Schlimmste«, fuhr ich fort. »Weißt du, was das Schlimmste ist?«
Ich wartete auf eine Reaktion. Vergebens.
»Manchmal vergesse ich, dass Karen nicht wiederkommt. Einen Moment lang halte ich inne und denke: Nachher schaut sie vorbei und wir teilen uns einen Käsesahne-Brownie und gehen auf Erkundungstour. Und dann fällt mir wieder ein, dass sie nicht mehr da ist, und das macht mich einfach fertig, denn mit Karen hab ich mich nicht so allein gefühlt.«
Ich sank in die Knie. Ich hatte verloren. Jetzt konnte der Hund sich von mir aus auf mich stürzen, mich anfallen und fürs Leben zeichnen. Wahrscheinlich würde ich nicht mal was spüren. Ich legte den Kopf in die Hände. »Nun mach schon, Junge«, flüsterte ich. »Bringen wir es hinter uns.«
Ich saß da, vollkommen leer, und wartete auf den Angriff.
Es kam keiner. Nach einer Weile hörte ich ein Schnüffeln und sah auf. Die leere Folie am Boden verriet mir, dass der Hund den Energieriegel verputzt hatte, und nun beschnupperte er mich an Kopf und Armen, als wäre auch ich ein Leckerli. Ich ließ ihn gewähren und hob den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. Aus der Nähe wirkten sie sanft und braun, beinah freundlich. Während ich noch überlegte, was ich jetzt tun sollte, schoss seine Zunge hervor und fuhr mir mit einem widerlichen Schlabberkuss durchs ganze Gesicht.
»Eklig! Ich hatte den Mund auf!« Mit dem Ärmel wischte ich mir den Geifer ab. Vorsichtig hielt ich die Nase in die Luft. Von Nahem war der Gestank noch schlimmer.
Langsam stand ich auf und besah mir den Hund in seiner vollen Länge. Sein Rückenfell hatte sich gelegt, und er wackelte mit dem Hinterteil, dort, wo eigentlich sein Schwanz hätte sein sollen. Wir waren jetzt Kameraden – bloß, weil er an meinem Reden oder meinem Geruch erkannt hatte, dass ich das einzige Geschöpf im Santiam Nationalforst war, dem es vermutlich genauso elend ging wie ihm.
Was nun? Zögernd griff ich nach dem Strick um seinen Hals und zog am anderen Ende, das noch immer in den Schachtelhalmen steckte. Mit einem Ruck löste es sich. Der Strick war kurz, und hintendran hing etwas Großes, von Dreck und Rost Überzogenes, das aussah wie ein Schienennagel. Ich blickte vom Höllenhund am Strick entlang bis zum Schienennagel und wieder zurück, und ich meinte, mir zusammenreimen zu können, was geschehen war. Jemand hatte die Bestie an einer kurzen Kette gehalten und sie hatte sich mit purer Muskelkraft losgerissen. Vielleicht fand ich den Besitzer und er würde sie wieder festbinden. An einer kurzen Kette. Ohne Futter.
Nein. Das war das Falscheste, was ich tun konnte. Aber was war das Richtige? Ranger Dave wüsste es bestimmt. Ich nahm das Handy aus der Tasche, rief ihn an und erklärte ihm die Lage.
»Gott, Ronnie. Was fällt dir ein?«, knurrte er. »Du kannst doch nicht einfach so abhauen. Wie hätte ich das deinen Eltern erklären sollen?«
»Ich weiß. Tut mir leid.«
Er seufzte tief. »Schon gut. Komm zur Straße, ich seh euch dann schon.«
Zusammen trabten der Hund und ich daher, wobei ich ihn locker am Strick hielt. Ich wusste, wenn er jemanden anfiel, war ich machtlos. Aber ich hielt ihn trotzdem weiter fest, weil mir die Illusion von Kontrolle gefiel. Ihm anscheinend auch, so wie er erst vorwärtsdrängte und sich dann umsah, ob ich auch hinterherkam.
Na los, du Schnecke
.
Als wir zur Straße gelangten, stand Ranger Dave mit seinem Jeep vom U.S. Forest Service schon da. Er öffnete die Beifahrertür.
»Steig ein«, sagte er kurz angebunden. Ich lotste den Vierbeiner auf die Rückbank und setzte mich schweigend nach vorn. Ich hatte Ranger Dave noch nie so sauer erlebt und es machte mir Angst.
»Ruf sofort deinen Dad an«, sagte er, während er den
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