Dunkler Grund
setzen.«
»Vielen Dank!« Rathbone trat ein, aber statt in das Frühstückszimmer zu gehen, dessen Tür der Butler ihm öffnete, blieb er im Foyer stehen. Es war ein angenehmer, gemütlicher Raum, aber selbst der oberflächliche Blick offenbarte bereits Hinweise auf Abnutzung und beschränkte Verhältnisse. Es gab ihm einen Stich, als er an den Ruin und den Selbstmord des alten Mr. Latterly dachte, und an den Tod seiner Frau, die kurz darauf aus Gram gestorben war. Und jetzt mußte er die Nachricht von einer neuen Tragödie überbringen, vielleicht einer noch weit schlimmeren.
Charles Latterly trat aus der rechten der beiden Türen auf der Rückseite des Foyers. Er war ein hochgewachsener, blonder Mann Ende Dreißig oder Anfang Vierzig, sein Haar lichtete sich bereits. Eine dunkle Vorahnung stand ihm in sein längliches Gesicht geschrieben.
»Guten Abend, Mr. Rathbone. Was kann ich für Sie tun, Sir? Ich glaube nicht, daß wir uns kennen, aber mein Butler sagte mir, daß Sie der Anwalt meiner Schwester sind. Ich wußte nicht, daß sie einen Anwalt braucht.«
»Es tut mir leid, daß ich Sie ohne Vorwarnung überfalle, Mr. Latterly, aber ich bringe höchst unerfreuliche Nachrichten. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß Miss Latterly ohne jede Schuld ist, aber eine ihrer Patientinnen, eine alte Dame, die mit dem Zug von Edinburgh nach London reiste, ist gestorben eines unnatürlichen Todes gestorben. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, Mr. Latterly, daß man Hester des Mordes an dieser Frau beschuldigt.«
Charles Latterly starrte ihn an, als hätte er die Bedeutung der Worte nicht verstanden.
»War sie nachlässig?« fragte er und kniff die Augen zusammen. »Das sieht Hester aber gar nicht ähnlich. Ich halte nicht viel von ihrem Beruf, falls man ihn überhaupt so nennen kann, aber ich glaube, daß sie in seiner Ausübung äußerst kompetent ist. Ich kann nicht glauben, Sir, daß sie sich einer Fahrlässigkeit schuldig gemacht hat.«
»Man beschuldigt sie nicht der Fahrlässigkeit, Mr. Latterly«, erklärte Rathbone langsam, und es war ihm zuwider, das tun zu müssen. Warum konnte der Kerl es nicht beim erstenmal begreifen? Warum mußte er so verständnislos und bestürzt schauen? »Sie wird beschuldigt, die Frau ermordet zu haben, um ihr eine Brosche zu stehlen.«
»Hester? Das ist absurd!«
»Natürlich ist es das«, stimmte Rathbone ihm zu. »Und ich habe bereits heute abend einen Ermittler nach Edinburgh geschickt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Aber ich fürchte, wir werden die Wahrheit nicht beweisen können, bevor die Sache vor Gericht kommt, und höchstwahrscheinlich wird morgen früh in den Zeitungen darüber berichtet werden, wenn nicht schon heute abend. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, damit Sie es nicht auf diese Weise erfahren.«
»Die Zeitungen? Du lieber Himmel!« Der letzte Rest von Farbe verflüchtigte sich aus Latterlys ohnehin schon blassem Gesicht. »Dann erfahren es alle! Meine Frau! Imogen darf nichts davon erfahren. Sie könnte…«
Rathbone spürte einen maßlosen Zorn in sich aufsteigen. Als erstes dachte Charles an die Gefühle seiner Frau. Er hatte sich noch nicht einmal nach Hesters Befinden erkundigt – oder wo sie sich befand!
»Ich fürchte, davor können wir sie nicht bewahren«, sagte er in scharfem Ton. »Es könnte doch auch sein, daß sie Hester besuchen möchte, um sie zu trösten.«
»Besuchen?« Charles sah verwirrt aus. »Wo ist Hester eigentlich? Was hat man mit ihr gemacht?«
»Sie ist im Gefängnis, und dort wird sie bis zum Prozeß bleiben müssen, Mr. Latterly.«
Charles sah aus, als wäre er geschlagen worden. Sein Kinn hing schlaff herunter, die Augen blickten starr, Ungläubigkeit verwandelte sich in Entsetzen.
»Gefängnis!« rief er bestürzt aus. »Sie meinen…«
»Natürlich.« Rathbones Ton wäre nicht so kalt gewesen, wenn er nicht mit seinen eigenen Gefühlen beteiligt gewesen wäre. »Sie steht unter Mordverdacht, Mr. Latterly. Es ist unmöglich, sie unter diesen Umständen auf freien Fuß zu bekommen.«
»Oh…« Charles wandte sich ab, versteckte seine Gedanken, aber jetzt zeigte er wenigstens Mitleid. »Arme Hester. Sie hatte immer soviel Mut und den Ehrgeiz, die außergewöhnlichsten Dinge zu tun. Manchmal habe ich gedacht, sie fürchtet sich vor gar nichts.« Er lachte kurz auf. »Ich hab’ mir immer gewünscht, sie hätte etwas mehr Angst. Dann wäre sie ein bißchen vorsichtiger gewesen.« Er stieß einen Seufzer
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