Dunkler Grund
Mischung aus Wut und Erleichterung, drängelte sich an einem hochgewachsenen Herrn in Schwarz vorbei, stieß die Wagentür auf und wäre beinahe hinausgefallen.
»Monk!« schrie er laut. »Monk!«
Monk drehte sich um. Er war elegant gekleidet wie zu einem Abendessen. Sein Jackett war perfekt geschnitten, ohne eine Falte lag es am Körper, die Schuhe strahlten in seidigem Glanz. Er war erstaunt, Rathbone hier zu treffen, aber es kam ihm nicht ungelegen.
»Haben Sie etwas herausgefunden?« fragte er verwundert.
»So schnell? Aus Edinburgh können Sie doch noch nichts gehört haben!«
»Ich habe noch gar nichts herausgefunden!« gab Rathbone zurück und wünschte, es wäre anders. »Ich wollte bloß wissen, ob es noch etwas zu besprechen gibt, jetzt, wo noch Zeit ist.«
Ein Anflug von Enttäuschung trübte Monks Gesichtszüge, so flüchtig, daß es einem weniger geübten Beobachter als Rathbone sicher entgangen wäre.
»Ich wüßte nicht was«, erwiderte Monk kühl. »Ich werde Sie schriftlich informieren, sobald ich etwas Wissenswertes erfahren habe. Impressionen spare ich mir für die Rückkehr auf. Es wäre zweckmäßig, wenn Sie es auch so machten, falls Sie etwas in Erfahrung bringen. Meine Adresse werde ich Ihnen umgehend mitteilen. Und jetzt würde ich gerne meinen Platz einnehmen. Sonst fährt der Zug noch ohne mich ab.« Grußlos drehte er sich um, ging zum nächsten Waggon, stieg ein und zog die Tür hinter sich zu. Rathbone blieb auf dem Bahnsteig zurück und fluchte leise. Er fühlte sich gekränkt und überfahren, und ihm war, als hätte er noch etwas sagen müssen.
5
Die Reise war für Monk alles andere als ein Vergnügen. Das Zusammentreffen mit Rathbone auf dem Bahnsteig hatte ihn ein wenig beruhigt, war es doch ein Beweis dafür, wie sehr Rathbone sich um Hester sorgte. Es mußte schon ein tiefes Gefühl dahinterstecken, wenn dieser Mann sich zu solch einem zwecklosen Botengang herabließ. Unter normalen Umständen hätte er sich vor Monk nicht so bloßgestellt und wäre zu Hause geblieben.
Aber dieser Trost war bereits verflogen, als der Zug aus dem Bahnhof ratterte und schnaufte, zwischen den regennassen Londoner Dächern hindurch; hin und wieder sah man ein Gaslicht in den sich leerenden Straßen, nasse Pflastersteine schimmerten, die Laternen trugen Glorienscheine aus Dunst, nur hier und da war noch ein Hansom unterwegs.
Er stellte sich Rathbone vor, wie er in seine Kanzlei zurückkam, sich hinter den Schreibtisch setzte, in seinen Papieren wühlte und darüber nachdachte, was er Nützliches tun könnte; er dachte an Hester, allein in der engen Zelle in Newgate, unruhig und ängstlich, zusammengekauert unter einer dünnen Decke, auf die schweren Schritte der Stiefel auf steinernem Fußboden lauschend und auf das Klappern der Schlüssel im Schloß den Haß in den Gesichtern der Wärterinnen stets vor Augen. Da machte er sich keine Illusionen. Die Wärterinnen hielten sie eines verabscheuungswürdigen Verbrechens für schuldig: Sie würden kein Mitleid mit ihr haben. Die Tatsache, daß Hester noch nicht verurteilt war, fiel für diese Frauen nicht ins Gewicht.
Warum hatte Hester sich nicht, wie andere Frauen auch, eine ordentliche Beschäftigung gesucht? Welche vernünftige Frau reiste schon mutterseelenallein quer durch das Land, um völlig fremde Menschen zu betreuen. Und warum gab er sich mit ihr ab? Irgendwann mußte die große Katastrophe ja hereinbrechen. Sie konnte noch von Glück sagen, daß es nicht schon auf der Krim passiert war. Und er war dumm genug gewesen, seine Gefühle nicht herauszuhalten. Eigentlich mochte er diesen Typ Frau nicht, hatte ihn noch nie gemocht! Beinahe alles an ihr ärgerte ihn.
Aber es war ein Gebot der Menschlichkeit, alles zu tun, um ihr zu helfen. Die Menschen vertrauten ihm, und soweit er sich erinnern konnte, hatte er dieses Vertrauen noch nie enttäuscht. Zumindest nicht vorsätzlich. Seine Gönnerin hatte er einmal enttäuscht, vor Jahren, das fiel ihm jetzt wieder ein. Aber das war etwas anderes gewesen. Er war an seinem Unvermögen gescheitert, und nicht etwa, weil er nicht alles versucht hätte. Freundlichkeit konnte es nicht sein: Alles, was er inzwischen über sich wußte, deutete darauf hin, daß er kein sehr freundlicher Mann war. Aber er hatte Ehrgefühl! Und Ungerechtigkeit ertrug er nun mal nicht.
Nein. Er zuckte zusammen und lächelte bitter. Das stimmte nicht ganz. Juristische Ungerechtigkeit ertrug er nicht. Er selber war zweifellos
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