Dunkler Grund
mochte. Damit hätte sie ein Jahr lang im Luxus leben können – um den Preis eines Menschenlebens.
Hester wartete in ihrer Zelle. Als sie den Schlüssel hörte, drehte sie sich langsam zur Tür, ein Hoffnungsschimmer erhellte ihr Gesicht.
Monk wandte sich zur Wärterin um. »Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche«, sagte er kühl. Sie zögerte. Etwas in Monks Gesicht verstörte sie; sie begriff instinktiv, daß er mit Waffen kämpfte, gegen die sie nicht ankam, daß er sich nicht einen Moment lang um seine eigene Sicherheit sorgte.
»Ja, Sir«, erwiderte sie grimmig und schlug die Tür unnötig heftig zu.
Monk betrachtete Hester mit äußerster Zurückhaltung. Sie hatte hier von morgens bis abends nichts zu tun, trotzdem sah sie müde aus. Sie hatte Ringe unter den Augen, und ihrer Haut fehlte jegliche Farbe. Ihr Haar lag platt am Kopf, offensichtlich hatte sie keine Mühe darauf verwandt, sich zu frisieren. Das Kleid war schlicht. Es sah aus, als hätte sie sich aufgegeben. Callandra mußte ihr doch längst ihre eigenen Kleider geschickt haben. Warum hatte sie nicht etwas weniger Düsteres ausgewählt? Und dann erinnerte er sich an seine eigene Verzweiflung während der Grey-Geschichte, als ein noch schlimmerer Alptraum ihn heimgesucht hatte – der Gedanke an Kerker und den Tod durch den Strang und die Angst, tatsächlich schuldig zu sein. Damals hatten Hesters Mut und ihr heiliger Zorn ihn gerettet.
Wieso gab sie sich selber so schnell auf?
»Sie sehen furchtbar aus!« sagte er kühl. »Was ist das für ein Kleid, um Himmels willen? Warten Sie schon auf den Henker?
Man hat Sie noch nicht mal vor Gericht gestellt!«
Langsam verfinsterte sich ihr Gesicht, aus Verwirrung wurde Zorn, ein stiller, kalter Zorn.
»In diesem Kleid habe ich Dienst getan«, sagte sie leise. »Es ist warm und praktisch. Ich weiß nicht, was Sie dagegen haben. Was spielt es für eine Rolle?«
Er wechselte unvermittelt das Thema. »Ich fahre mit dem Nachtzug nach Edinburgh. Rathbone möchte, daß ich alles über die Farralines herausfinde. Man kann davon ausgehen, daß jemand von ihnen die alte Dame…«
»Ich kann an nichts anderes denken«, unterbrach sie ihn, ohne Überzeugung in der Stimme. »Aber sparen Sie sich die Frage, ich weiß nicht wer oder warum. Ich kann mir keinen Grund vorstellen, und dabei hatte ich nichts anderes zu tun, als darüber nachzudenken.«
»Haben Sie sie getötet?«
»Nein.« Sie sagte es ohne Zorn, nur mit stiller Resignation. Das machte ihn wütend. Er haßte diese Veränderung an ihr; diese Gelassenheit, die so untypisch für sie war. Dabei hatte sie ihm in ihrer kämpferischen Art gar nicht so gut gefallen! Sie hatte viel zuviel geredet, überzeugt von ihrer Meinung, ob sie nun informiert war oder nicht. Sie war so ganz anders gewesen als die Frauen, die ihm gefielen. Ihr fehlten die Sanftheit, die weibliche Wärme und die Anmut, die er an Frauen bewunderte, die ihm das Herz höher schlagen ließen und seine Begierde weckten. Und doch beunruhigte es ihn, sie so zu sehen.
»Dann muß es jemand anders gewesen sein!« schnauzte er.
»Oder glauben Sie, daß sie Selbstmord begangen hat?«
»Natürlich nicht!« Jetzt war sie auch wütend. Ein rosiger Schimmer legte sich auf ihre Wangen. »Wenn Sie sie gekannt hätten, würden Sie nicht auf solch einen Gedanken kommen!«
»Vielleicht war sie senil und hilflos«, schlug er vor, »und hat sich aus Versehen selbst getötet.«
»Das ist lächerlich!« Ihre Stimme wurde schärfer. »Mrs. Farraline war nicht seniler als Sie! Wenn Ihnen nichts Besseres einfällt, dann verschwenden Sie Ihre Zeit! Und Olivers auch, sollte er sie eingestellt haben!«
Er war froh, ihre Lebensgeister zurückkehren zu sehen, wenn auch nur, um Mrs. Farraline zu verteidigen, aber es erboste ihn, daß sie meinte, er wäre nur in Rathbones Auftrag hier und weil er dafür Geld bekam. Er wußte nicht, was ihn daran so ärgerte, aber es war ein schmerzlicher Gedanke, und er reagierte sofort.
»Seien Sie nicht kindisch, Hester. Dafür ist keine Zeit, und es steht einer Frau Ihres Alters nicht gut zu Gesicht.«
Jetzt war sie wirklich wütend. Er wußte, es war die Anspielung auf ihr Alter. Das war idiotisch, aber in manchen Dingen war sie eben idiotisch. Wie die meisten Frauen.
Hester sah ihn voller Verachtung an.
»Von den Farralines werden Sie erfahren, daß ich die Aufgabe hatte, Mrs. Farraline nach London zu begleiten, ihr die Medizin zu geben, für ihr Wohlergehen zu sorgen und
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