Dunkler Grund
nehmen. Die Unterhaltung erforderte nicht viel Aufmerksamkeit.
Er dachte noch einmal über das nach, was ein Botenjunge gesagt hatte. Diskret beobachtete er Deirdra Farraline. Ihr Gesicht gefiel ihm noch immer: Es war sehr feminin, Wangen und Kinn leicht gerundet, eine hübsche Nase, volle Augenbrauen, und doch sprach Entschiedenheit aus ihren Zügen, nichts darin deutete auf Schwäche oder Trägheit hin. Es war zwar töricht, aber er war irgendwie enttäuscht, daß sie soviel Zeit bei gesellschaftlichen Anlässen verbrachte und viel Geld ausgab, um andere zu beeindrucken.
Natürlich war sie jetzt ganz in Schwarz gekleidet, wie der Trauerfall es erforderte, und die Farbe stand ihr gut, aber das Kleid hätte einem kritischen Blick nicht standgehalten. Es entsprach keineswegs der letzten Mode, ja, nach Londoner Maßstäben war es geradezu simpel geschnitten. Die Leute hatten recht, es fehlte ihr an Geschmack. Es ärgerte ihn, daß er ihnen in diesem Punkt zustimmen mußte.
Vorsichtig wandte er sich Eilish zu, er wollte sich nicht dabei erwischen lassen. Ihre Schönheit irritierte ihn so schon genug, da mochte er nicht auch noch ihrer Eitelkeit schmeicheln.
Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Sie hielt den Blick gesenkt, nur zweimal hob sie ihn, um Baird anzuschauen.
Auch sie trug natürlich ein schwarzes Kleid, aber wesentlich vorteilhafter geschnitten und im Detail zweifellos modischer. Es hätte von keiner Londoner Schönheit besser zur Geltung gebracht werden können, egal, was es gekostet haben mochte.
Jetzt war Oonagh an der Reihe. Sie ließ den Blick in der Runde schweifen, um sich zu vergewissern, daß es niemandem an etwas fehlte. Er konnte sie nur einen Moment lang ansehen, wenn er sich von ihr nicht ertappen lassen wollte. Auch ihr Kleid, so einfach es war, war modischer geschnitten als Deirdras. Es waren nicht nur ihr Temperament und ihre Intelligenz, die es so erscheinen ließen. Wofür auch immer Deirdra Geld ausgeben mochte, für Trauerkleidung ganz bestimmt nicht.
Das Mahl nahm mit höflicher Konversation seinen Fortgang, und als es beendet war, entschuldigte sich Kenneth zu Alastairs Verärgerung und begleitet von einem sarkastischen Kommentar Quinlans, während die übrige Gesellschaft sich zu sonntäglichen Beschäftigungen zurückzog. Alastair schloß sich in sein Arbeitszimmer ein, um zu lesen, aber er teilte nicht mit, ob er Akten lesen wolle oder was anderes, und Quinlans diesbezügliche Frage ließ er unbeantwortet. Oonagh und Eilish griffen zu ihren Stickarbeiten, und Deirdra sagte, sie müsse einen Besuch bei einer kranken Nachbarin machen, was unkommentiert blieb. Wahrscheinlich war die Frau der Familie bekannt, und Deirdra ging regelmäßig zu ihr. Quinlan nahm eine Zeitung zur Hand, um den einen oder anderen vorwurfsvollen Blick kümmerte er sich nicht, und Baird sagte, er habe ein paar Briefe zu schreiben.
Monk nahm die Gelegenheit wahr und begann ein paar der Dienstboten zu befragen.
Keine leichte Aufgabe. Ihr Gedächtnis war durch das Wissen um Marys Tod und die Überzeugung, daß Hester dafür verantwortlich war, beeinflußt. Mit Impressionen konnte er nichts anfangen, nur Tatsachen waren geeignet, die Wahrheit ans Licht zu bringen, und selbst denen konnte man nicht trauen. Nachträgliche Interpretationen verwässerten Gewißheiten und verwandelten Vermutungen in Überzeugungen.
Niemand bestritt die Zeit ihrer Ankunft und ihrer Abreise und daß sie in der Küche ein Frühstück bekommen hatte, bevor sie von Oonagh zu Mary Farraline gebracht worden war. Die Frauen hatten sowohl das zweite Frühstück als auch das Mittagessen zusammen eingenommen. Was Hester in der Zwischenzeit getan hatte, blieb im Ungewissen. Ein Hausmädchen erinnerte sich, sie in der Bibliothek gesehen zu haben, ein anderes glaubte, sie könnte nach oben gegangen sein, aber beschwören wollte sie es nicht. Zweifellos habe sie nach dem Mittagessen geruht, und, ja, natürlich hätte sie Zeit gehabt, in Marys Ankleidezimmer zu gehen und dort alles mögliche anzustellen!
Ja, die Zofe hatte ihr Marys Kleider gezeigt, die Koffer und vor allem auch die Arzneischatulle. Das sei schließlich ihre Aufgabe gewesen, oder etwa nicht? Miss Latterly sei angestellt worden, um Mrs. Farraline ihre Medizin zu verabreichen! Wie hätte sie das tun können, ohne daß man sie ihr zeigte?
Niemand habe die Absicht, ihr einen Vorwurf daraus zu machen!
Wirklich nicht? Man müsse sich doch nur den Ausdruck auf ihren
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