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Dunkler Grund

Dunkler Grund

Titel: Dunkler Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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bedankte sich für die Gastfreundschaft.
    Im Foyer blieb Oonagh stehen und wandte sich mit ernstem Gesicht zu ihm um. Leise sagte sie: »Mr. Monk, beabsichtigen Sie, weitere Ermittlungen in unserer Familie durchzuführen?«
    Er wußte nicht recht, was er antworten sollte. Er suchte nach Furcht oder Zorn in ihrem Gesicht, nach Ressentiments, aber er entdeckte immer nur dasselbe neugierige Interesse und eine Spur von Herausforderung, nicht unähnlich dem Gefühl, das sie in ihm weckte.
    »Sollten Sie es nämlich vorhaben«, fuhr sie fort, »dann müßte ich Sie um etwas bitten.«
    Er ergriff die Gelegenheit. »Selbstverständlich«, sagte er schnell. »Worum geht es?«
    Sie senkte den Blick, um ihre Gedanken zu verbergen. »Falls … falls Sie bei Ihren… Ermittlungen erfahren sollten, wo meine Schwägerin diese Unmengen von Geld ausgibt, wäre ich… wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns… oder zumindest mir, einen kleinen Hinweis geben würden.« Sie sah ihm plötzlich direkt in die Augen, aber es war weder Offenheit noch Furcht in ihrem Blick. »Ich könnte vielleicht unter vier Augen mit ihr reden und auf diese Weise vielen Unannehmlichkeiten vorbeugen. Würden Sie das tun, oder wäre es unmoralisch?«
    »Sicher würde ich es tun, Mrs. McIvor«, sagte er ohne zu zögern. Sie hatte einen Fehdehandschuh hingeworfen, und ob sie nun an der Antwort interessiert war oder nicht – es war genau der Vorwand, den er brauchte. Er mochte Deirdra, aber er würde sie ohne zu zögern opfern, wenn es ihm helfen würde, die Wahrheit herauszufinden.
    Sie lächelte, Temperament und Herausforderung schwangen im kühlen Klang ihrer Stimme mit, lauerten hinter dem Gleichmut ihrer Züge. »Danke. Vielleicht möchten Sie in zwei, drei Tagen wiederkommen und mit uns speisen?«
    »Mit dem größten Vergnügen«, akzeptierte er, und nachdem McTeer ihm Hut und Mantel gereicht hatte, verließ er das Haus.
    Es war eigentlich Zufall, daß er auf dem Gehsteig noch einmal stehenblieb, um darüber nachzudenken, ob er den ganzen Weg zum Grassmarket zu Fuß gehen oder in der Princes Street nach einem Hansom Ausschau halten sollte. Er drehte sich noch einmal zum Haus der Farralines um, und da sah er eine kleine, zierliche Gestalt in weiten Röcken aus dem Seiteneingang kommen und hinunter zur Straße laufen. Es mußte Deirdra sein; kein Hausmädchen trug eine so verschwenderische Krinoline, und sie war kleiner als Eilish oder Oonagh.
    Gleich darauf sah er die zweite Gestalt, die über die Straße kam. Als er unter einem Gaslicht hindurchging, sah Monk seine groben Kleider und das schmutzige Gesicht. Der Mann hatte nur Augen für Deirdra und ging eiligen Schrittes auf sie zu.
    Dann erblickte er Monk. Er erstarrte, machte auf dem Absatz kehrt, zögerte einen Moment und lief dann in der Richtung davon, aus der er gekommen war. Monk wartete fast eine Viertelstunde, aber er ließ sich nicht wieder blicken, und schließlich ging auch Deirdra zurück ins Haus.

6
    Auf der Fahrt nach Norden hatte Monk sich mit dem Gedanken getröstet, daß Hester ja immerhin die Krim überstanden hatte, und viel schlimmer als die Erfahrungen, die sie dort gemacht hatte, könnte die Zeit in Newgate auch nicht sein. Ja, er hatte sogar gehofft, daß es dort in vielerlei Hinsicht weniger schlimm sei.
    Das war ein Irrtum. Für Hester war es unendlich viel schlimmer. Sie fror erbärmlich, am ganzen Körper zitterte sie vor Kälte, alles Gefühl war aus den Füßen gewichen; nachts konnte sie immer nur kurze Zeit schlafen, dann weckte die Kälte sie wieder auf.
    Und sie hatte Hunger. Es gab regelmäßig, aber nur wenig zu essen, und es schmeckte schlecht. Es war wie auf der Krim, sogar ein bißchen besser: Sie mußte keine Angst haben zu verhungern. Die Gefahr ansteckender Krankheiten gab es auch hier, doch war sie so gering, daß Hester keinen Gedanken daran verschwendete.
    Im Falle einer Krankheit würde sich hier niemand um sie kümmern, da gab sie sich keinen Illusionen hin, und diese Aussicht war beängstigender, als sie geglaubt hatte. Krank auf der Pritsche zu liegen, allein oder unter bösartigen, schadenfrohen Blicken, die sich an ihrer Verzweiflung, ihrer Schwäche und Demütigung noch erfreuten, das war eine schreckliche Vorstellung, die ihr den kalten Schweiß auf die Stirn trieb und den Puls zum Rasen brachte.
    Das war der größte Unterschied. Auf der Krim war sie von ihren Kolleginnen geachtet, von den Soldaten, denen sie soviel geopfert hatte, angebetet worden.

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