Dunkler Grund
Liebe und Respekt sind Brot für den Hungernden, Wärme im kältesten Winter, lassen Schmerz, Angst und Erschöpfung vergessen.
Haß und Einsamkeit machen jegliche Hoffnung zunichte.
Und dann war da noch die Zeit. Auf der Krim war fast jeder wache Moment mit Arbeit ausgefüllt. Hier blieb ihr nichts zu tun, als auf der Pritsche zu sitzen und zu warten, Stunde um Stunde, von morgens bis in die Nacht, Tag für Tag. Sie konnte nichts tun. Alles lag in Monks und Rathbones Händen. Sie war zu absoluter Untätigkeit verdammt.
Sie hatte sich vorgenommen, nicht an die Zukunft zu denken, ihre Gedanken nicht auf den Prozeß zu richten, sich den Gerichtssaal nicht vorzustellen, in dem sie viele Male auf der Galerie gesessen und Rathbone zugesehen hatte. Diesmal würde sie auf der Anklagebank Platz nehmen müssen. Sie hatte sich geschworen, es nicht zu tun, und jetzt wog sie die Angst doch in ihren Gedanken ab, versuchte sich vorzustellen, wie weit die Realität von ihren schlimmsten Befürchtungen abweichen mochte. Es war, als würde sie den Finger immer wieder in dieselbe Wunde legen müssen, um zu fühlen, ob sie noch immer schmerzte.
Wie oft hatte sie den verwundeten Soldaten verboten, das zu tun? Es war dumm und selbstquälerisch. Und jetzt machte sie es genauso. Es war, als müßte man ständig auf sein eigenes Verderben schauen, um sich der Illusion zu berauben, es wäre vielleicht noch aufzuhalten, es wäre doch nicht so schlimm, wie man befürchtete. Und dann gab es da noch den anderen Gedanken in ihrem Hinterkopf, daß sie nämlich auf das Schlimmste besser vorbereitet wäre, wenn sie es sich in allen Einzelheiten ausmalte.
Das Klappern des Schlüssels im Schloß schreckte sie aus ihren düsteren Gedanken auf. Hier gab es keine Privatsphäre; man war völlig isoliert und konnte doch jederzeit gestört werden.
Eine Wärterin starrte auf sie herunter, das helle Haar in einem Knoten so, fest zusammengebunden, daß es die Haut an den Schläfen straff nach hinten zog. Ihr Gesicht war beinahe ausdruckslos. Nur ein leichtes Zittern im Mundwinkel verriet ihren Abscheu und die Befriedigung, ihn zeigen zu dürfen.
»Aufstehen, Latterly!« befahl sie. »Da will jemand mit dir reden.« Sie verkündete es verärgert. »Du solltest dein Glück nützen. Nicht mehr lange bis zum Prozeß, und danach geben sich die Leute hier nicht mehr die Klinke in die Hand.«
»Dann bin ich nicht mehr hier«, versetzte Hester bissig. Die Wärterin hob die schmalen Augenbrauen.
»Glaubst wohl, du kommst nach Hause, was? Pustekuchen! Die hängen dich auf, meine feine Dame, an deim mageren weißen Hals hängen se dich auf, bis dassde tot bist. Und dann braucht dich keiner mehr besuchen kommen!«
Hester begegnete ihrem Blick und hielt ihn fest.
»Ich habe viele Menschen hängen sehen, deren Unschuld sich hinterher herausgestellt hat«, sagte sie mit klarer Stimme. »Aber Ihnen ist das egal! Sie wollen die Leute hängen sehen. Die Wahrheit interessiert Sie nicht.«
Dunkles Rot überflutete das Gesicht der Frau, ihre Nackenmuskeln spannten sich. Sie machte einen halben Schritt nach vorne.
»Paß auf dein Mundwerk auf, Latterly, oder ich stopf es dir! Denk dran, wer hier die Schlüssel in der Hand hat – du bist es nicht! Ich hab' hier das Sagen, und du wirst noch froh sein, mich auf deiner Seite zu haben, wenn’s soweit ist! Ich hab’ hier viele Leute gesehen, die ham sich für stark gehalten – bis zur letzten Nacht vor dem Strick.«
»Nach einem Monat in Ihrer Obhut kann mich der Strick nicht mehr schrecken«, erwiderte Hester verbittert, aber sie hatte einen Kloß im Magen, und die Brust war ihr schwer. »Wer ist mein Besucher?«
Sie hatte auf Rathbone gehofft. Er war ihr Rettungsring, ihre einzige Hoffnung. Callandra war schon zweimal zu Besuch gewesen, und beide Male war Hester von ihren Gefühlen überwältigt worden. Vielleicht lag es an Callandras großer Zuneigung, an ihrem tiefen Mitgefühl. Nachdem sie wieder gegangen war, hatte sie sich maßlos einsam gefühlt. Sie hatte ihre ganze Willenskraft aufbieten müssen, um nicht hemmungslos zu weinen. Vor allem der Gedanke an die Wärterin hatte sie davor bewahrt.
Aber jetzt erkannte sie nicht etwa Rathbone hinter den mächtigen Schultern der Wärterin, sondern ihren Bruder Charles. Er sah blaß und todunglücklich aus. Er betrat hinter der Wärterin die Zelle, den Blick aufmerksam auf Hester gerichtet.
Hester blieb stehen, wie ihr aufgetragen worden war. Charles ließ den Blick
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