Dunkler Rausch der Sinne
Rückseite des Gebäudes. »Bist du bereit? Wir müssen bald
aufbrechen, wenn wir noch heute Nacht reisen wollen.«
Ihre Augen waren plötzlich wachsam. Sie war während seiner
Vorbereitungen auffallend still gewesen und hatte ihm nicht eine einzige Frage
gestellt. Ihr Schweigen beunruhigte ihn weit mehr als ihre Fragen es vermocht
hätten.
»Ich
weiß nicht, warum, Lucian, aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir doch
nicht die Limousine nehmen werden.«
»Nein,
wir reisen allein viel schneller und sicherer. Antonio wird mit dem Wagen zum
Flugplatz fahren, während wir von hier aufbrechen.«
»Und wir werden ...« Sie brach ab und sah ihn fragend
an.
»Fliegen.« Er sagte es ganz leise.
Jaxon
schluckte den Kloß, der ihr plötzlich in die Kehle gestiegen war. Irgendwie
hatte sie es gewusst. Irgendwann war ihr klar geworden, dass sie nicht an Bord
eines Flugzeugs gehen oder in der weißen Limousine über Land fahren würden.
Sie hatte keine Ahnung, woher sie dieses Wissen bezog; vielleicht lag es
einfach daran, dass sie Lucians Gedanken lesen konnte. Vielleicht war sie öfter
in seinem Denken, als ihr bewusst war.
Ihr
fiel auf, dass sie nervös die Finger ineinander verschlang, und sie schob
sofort beide Hände hinter ihren Rücken. Er glaubte, dass sie das konnte. Er
erwartete es von ihr. Er tat so, als wäre es ganz alltäglich, einfach zu
fliegen. »Wie Superman?« Ihr Versuch zu lächeln scheiterte.
»Nicht
ganz. Wolken ziehen auf - eine perfekte Tarnung. Ich helfe dir, dich in Dunst
aufzulösen, und dann benutzen wir die Strömungen, um uns in der Luft zu
bewegen.«
Ihr
Herz hämmerte in ihrer Brust, ihre Zähne bohrten sich tief in ihre Unterlippe.
»Dunst klingt ganz schön schwierig, finde ich. Können wir es nicht auf
einfachere Art versuchen?«
»Zum Beispiel?«, fragte Lucian freundlich.
»Wir
können unsere Füße benutzen. Du weißt schon, einfach zum Highway gehen und den
Daumen raushalten.« Wieder versuchte sie ein Lächeln aufzusetzen. Aber das
heftige Schlagen ihres Herzens verriet sie.
»Schau mich an, mein Engel.« Er richtete die volle Kraft seiner
schwarzen Augen auf sie. »Du vertraust mir. Du kennst mich. Ich würde nie etwas
von dir verlangen, das du nicht kannst. Du bist durchaus imstande, das zu tun.«
Sie nickte, weil sie wusste, dass er Recht hatte, aber trotzdem war der
Gedanke, ihr Körper könnte sich in feine Nebeltröpfchen auflösen,
beängstigend. »Könnte ich nicht zuerst etwas anderes probieren ? Etwas
Leichteres ?«Ihre Finger verschränkten sich krampfhaft ineinander, aber ihre
Haltung verriet Entschlossenheit.
Lucian zögerte. Als Nebelschleier konnte man sich ungeheuer rasch
bewegen, stromlinienförmig, schnell, im Dunkel der Nacht sogar für die Untoten
unsichtbar. »Nebel erfordert denselben Aufwand an Energie wie die Umwandlung
in eine Eule oder einen anderen Raubvogel. Im Grunde genommen ist es dasselbe.«
»Wie können unsere Körper in einen kleinen Vogelkörper gequetscht
werden?« Ihre Stimme bebte. Sie hörte es selbst, konnte aber nichts dagegen
tun. So sehr sie sich auch bemühte, die Vorstellung zu akzeptieren, es blieb
einfach ein erschreckender Gedanke.
Lucian legte seine Arme um sie. »Ich kann dir helfen, Jaxon. Traust du
mir zu, das für dich zu tun? Ich kann es dir leichter machen, dich mit diesem
Phänomen abzufinden.«
Ihre erste Reaktion war, energisch den Kopf zu schütteln, und sie biss
sich so fest auf die Lippen, dass ein kleiner Tropfen Blut hervortrat. Die
Vorstellung, dass jemand anders sie beherrschte, war nicht nach ihrem
Geschmack, aber als sie sich dazu zwang, tief durchzuatmen, empfand sie es
anders. Das war jetzt Teil ihres Lebens. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie war
kein Mensch mehr. Sie war Karpatianerin. Es gab kein Zurück. Sie musste all das
irgendwie lernen. Und sie würde es nicht schaffen, mit jeder Situation auf
Anhieb fertig zu werden.
Lucian beobachtete, wie sie nervös an ihrer Unterlippe nagte. Bei dem
Anblick tat ihm das Herz weh. Er legte eine Hand auf ihren Nacken, strich über
ihre Haut, ihren Puls. Wie von selbst streichelten seine Fingerspitzen
beschwichtigend ihr blondes Haar. Er neigte den Kopf, fand zu ihrem Mund und
verschloss mit seiner Zunge die winzige Wunde auf ihrer Lippe, indem er ihr
Blut in sich aufnahm.
»Hilf mir einfach, ein bisschen ruhiger zu werden«, sagte Jaxon leise.
»Ich möchte nicht, dass du mich total unter Kontrolle hast.«
Seine Hand berührte liebevoll ihr Gesicht.
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