Dunkler Rausch der Sinne
Die totale Kontrolle zu
übernehmen, war durchaus eine Versuchung. Nicht etwa, dass er den Zeitverlust
übel genommen hätte. Er hatte einen Großteil der Nacht damit verbracht, die
Wölfe auf den Transport und die beunruhigende Trennung von ihm vorzubereiten,
und jetzt würde er gerne jede Minute opfern, um Jaxon all die Zeit zu geben,
die sie brauchte, um in das einzuwilligen, was getan werden musste, und um die
ungeheuren Fähigkeiten zu akzeptieren, die sie gewonnen hatte. Trotzdem war er
versucht, ihr Denken zu übernehmen, ihre Ängste auszulöschen, um ihr unnötige
Qualen zu ersparen.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, zwang sie sich zu einem schwachen
Lächeln. »Ich kann es schaffen. Ich weiß, dass ich es kann. Wenn ich es diesmal
mit deiner Hilfe mache, weiß ich, dass ich es das nächste Mal alleine kann. Es
wäre ziemlich praktisch gewesen, als ich es im Revier mit diesem Ghoul zu tun
hatte. Ich hätte mich einfach in Luft auflösen können.«
»Du wirst ein Gefühl ungeheurer Freiheit erleben, Jaxon«, sagte er
leise, während er seinen Geist vollständig mit ihrem verschmelzen ließ. Sofort
übertrug sich seine Ruhe auf sie. Er ließ vor ihrem inneren Auge ebenso wie vor
seinem ein Bild entstehen.
Jaxon spürte, wie ihr Körper zu verschwinden begann ... nein, er
verschwand nicht wirklich, sondern wurde luftig und leicht. Am liebsten hätte
sie nach Lucians Hand gegriffen und sich an ihm festgehalten. Er war wie ein
Anker in ihrem Inneren, und im selben Moment, als leise Panik in ihr aufstieg,
fühlte sie die Kraft und die Wärme seiner Arme, die sie umschlossen.
Abgesehen davon gab es keine Jaxon mehr. Sie war Dunst, hauchzarter Nebel,
farbenprächtig wie das Prisma eines Regenbogens, feine Tropfen, die in der
Luft flimmerten. Und um sich herum spürte sie Lucian, nicht in Fleisch und
Blut, Knochen und Sehnen, sondern in Form von glitzernden Pünktchen, die sich
unablässig bewegten, um sie zu beschützen, als sie begannen, in die Höhe zu steigen.
Es
war ein unerwartet berauschendes Gefühl. Erschreckend, aber berauschend. Sie
trieben dem Himmel entgegen, direkt auf die Wolken zu. Jaxon hatte nie etwas
erlebt, das diesem Gefühl auch nur annähernd glich. Macht strömte durch sie
hindurch und in den nächtlichen Himmel hinaus.
Sie
war sich der Landschaft bewusst, die unter ihr lag, obwohl sie sie nicht mit
eigenen Augen, sondern eher durch Lucians Augen zu sehen schien, als sie durch
die Luft glitten. Sie bewegten sich viel zu schnell, und Jaxon war zu
unerfahren, als dass sie imstande gewesen wäre, sich auf irgendetwas unten auf
der Erde zu konzentrieren. Jedes Mal, wenn sie abgelenkt zu werden drohte,
beherrschte Lucian ihr Denken und hielt das Bild von Nebelschleiern in ihrem
Geist fest. Für ihn war es so leicht und selbstverständlich, dass derartige
Umwandlungen für ihn nicht anders waren, als sich ganz normal zu bewegen. Für
Jaxon war es ein kräftezehrender und doch erregender Ritt.
Als Lucian schließlich Halt
machte, war Jaxon so erschöpft, dass sie kaum in der Lage war, ihre frühere
Gestalt anzunehmen. Sie schwankte, und ihre Haut war so blass, dass sie beinahe
durchsichtig schien. Wenn Lucian sie nicht gehalten hätte, wäre sie einfach auf
den Boden gesunken. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, und im Grunde
interessierte es sie nicht. Ringsum war dichter Wald mit hohen Bäumen und
dunkler, üppiger Vegetation. Sie befanden sich im Gebirge, auf hohem, steilem
Gelände. Der Wind wehte scharf durch Äste und Blätter und erzeugte einen
Pfeifton, der beinahe wie ein Stöhnen klang.
Jaxon fühlte sich in Lucians Armen leicht, fast schwerelos. Er ließ sie
sanft zu Boden gleiten, sodass sie sich mit dem Rücken an einen breiten
Baumstamm lehnen konnte. »Du hast es genau richtig gemacht, Liebes. Die Gestalt
umzuwandeln ist gar nicht so schlimm, wie es zunächst scheint, oder?«
Sie umklammerte ihre Knie und schüttelte den Kopf. Ihr war schwindlig,
und ihr Kopf schien beinahe zu schwer, um ihn hochzuhalten. Sie war hungrig.
Der Hunger hämmerte in ihr wie ihr Puls, wie ihr Herzschlag, dröhnte in ihren
Ohren und rauschte in ihren Adern. Er war wie eine Krankheit, die sie verzehrte.
Sie konnte Lucians stetigen Herzschlag hören, der sie zu locken schien, spürte
das Wogen des Blutes, das durch seine Adern strömte. Sie konnte seinen Geruch
wahrnehmen, der nach ihr rief, den innersten Kern seines Seins. Sie fühlte die
Hitze seiner Haut, die von ihm ausging und sie umfing wie
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