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Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Dunkler Schlaf: Roman (German Edition)

Titel: Dunkler Schlaf: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Bremse verfehlt! Wie gelähmt sah er das kleine blaue Gefährt über die Kante kippen. Schließlich johlte er und schrie und rannte los und wäre fast mit Andreas zusammengestoßen. Nun blieb die Frau stehen. Endlich ging ihr auf, was passierte. Sie fuhr herum und sah Zipp den Abhang hinunter verschwinden. Und dann stieß sie einen schrillen Schrei aus und stürzte hinterher. Andreas hielt verdutzt inne. Die Tasche rutschte ihm aus den Händen. Von fern hörte er das brausende Meer, laute Brecher, die einen umwerfen konnten. Und er hörte einige leise Rufe. Endlich tauchten Zipps blonde Haare wieder auf. Sein Gesicht war rot vor Aufregung.
    »Los, zum Henker. Mach schon!«
    »Das Kind!« schrie Andreas. Er schnappte sich die Tasche und rannte los.
    »Der Wagen ist gegen einen Felsen gestoßen und umgekippt. Das Kind ist rausgefallen. O Scheiße!«
    Sie sprangen ins Auto und bretterten über den Platz. Keiner von beiden wagte es, sich umzudrehen. Noch immer hörten sie das Meer rauschen, ein schweres Dröhnen, das sich hob und senkte.
    »Verdammt. Das Kind hat geschrien wie am Spieß.«
    »Reg dich ab, ist doch nichts passiert.«
    »Nichts passiert? Das hätte ertrinken können!«
    »Ist es aber nicht.«
    »Aber es ist gestürzt. O Kacke, du hättest es schreien hören sollen.«
    »Wär schlimmer gewesen, wenn es nicht geschrien hätte.«
    »Herr Jesus!«
    »Laß Jesus aus dem Spiel.«
    Der Golf dröhnte den Weg hinauf, fauchte über den Kies und geriet in heftiges Schlingern. Die Kupplung knirschte. Andreas mußte sich am Türgriff festhalten. Er riß sich die Mütze vom Kopf und steckte sie in die Tasche. Befreit fielen die Locken auf seine Schultern.
    »Sie hat uns beide gesehen. Und den Wagen. Hast du die Tasche?« Zipp sprach abgehackt.
    »Hältst du mich für einen Amateur?« murmelte Andreas.
    »Bei uns stehen heute abend die Bullen auf der Matte.«
    »Nein. Die Frau denkt nur an das Kind. Alles andere wird sie vergessen.«
    »Hast du total den Verstand verloren?« schrie Zipp. Er hatte alle Mühe, mit seinen zitternden Händen das Lenkrad zu halten.
    »Ich weiß, wie Frauen sind. Sie wird Gott dafür danken, daß dem Kind nichts passiert ist. Und einsehen, wie unwichtig Geld ist. Die Alte wird ganz neue Werte kennenlernen. Und jetzt halt die Fresse und fahr.« Er öffnete die Tasche und wühlte darin herum. Zog eine Nuckelflasche heraus. »Die Milch ist warm«, sagte er verwundert. Es folgten ein blauer Schnuller, ein Insektennetz für den Kinderwagen und eine Brieftasche. Die riß er auf. »Sie heißt Gina«, rief er. »Was für ein Name, Gina!«
    »Und ist auch Geld drin?« fragte Zipp verstört.
    »Hunderter. Vier Hunderter. Scheiße, Zipp. Das sag ich dir. An Schnelligkeit und Kraft bin ich einfach überlegen. Tyrell Corporation zufolge. Kampfmodell Nexus.«
    Zipp grunzte etwas Unverständliches und gab Gas. Seine Stirn war schweißnaß. Andreas tickte einfach nicht mehr richtig.

 
    M eine Mutter war eigentlich weniger eine Mutter als eine Art korrigierende Instanz. Deshalb bin ich ein wohlerzogenes Mädchen. Sag ja bitte und nein danke, es spielt keine Rolle, entscheide du. Ich habe einen festen Händedruck. Schaue den Leuten in die Augen. Merke mir Namen. Merke mir Kleinigkeiten, was Leuten gefällt und was nicht, sehe, wie sie züchtig erröten. Ich komme allein zurecht, mir fehlt nichts, ich bin kein Opfer. Wir können uns durchs Leben streiten und Forderungen stellen, wir können Ansprüche erheben, auf die Erfüllung warten und in Schmerzen leben. Warum sollte ich aber? Für mich ist nichts wichtig, nicht wichtig genug. Ich kann mich gern hinten anstellen, ich bin ein geduldiger Mensch. Wenn andere es eilig haben, lasse ich sie vor. Das gefällt mir. Ich lache über sie, wenn sie es nicht sehen. Lache über ihre Auf-Leben-und-Tod-Miene. Nur an schlechten Tagen weine ich. Aber ich habe nicht viele schlechte Tage. Bisher zumindest nicht.
    Manchmal weine ich, und dann staune ich über den Riß, der sich da ohne Vorwarnung auftut. Wenn ich Bilder aus armen Ländern sehe. Kinder mit Fliegen im Mundwinkel, zahnlose Greise ohne Fleisch am Leib, von Wunden und Krusten bedeckt, ohne Wasser; sie sehen mich anklagend an. Vielleicht habe ich teil an der Schuld. Irgend jemand trägt doch die Schuld. Ich habe nie versucht, etwas zu ändern.
    Ich bin froh darüber, daß Henry verschwunden ist. Ich hatte es kommen sehen. Sah sein Gesicht, wenn ich mich abends auszog. Es war kein Ekel, nur eine entsetzliche

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