Dunkler Schnee (German Edition)
Enttäuscht wollte sie alles wieder hineinlegen und empfand diese Enttäuschung gleichzeitig als Erleichterung. Vielleicht waren ihre Vermutungen doch nichts weiter als Hirngespinste! Beim Zurücklegen klappte das Jahrbuch auf und rutschte ihr aus den Händen. Aufgeklappt lag es nun vor Marisa auf dem Boden. Es war aus dem Abiturjahr und in stark lädiertem Zustand, das Deckblatt nur mehr halb vorhanden, fast zerfiel das ganze Buch, da die Heftung sich zum Großteil gelöst hatte. Sie blätterte mit spitzen Fingern und fand Laurens’ Foto auf Anhieb. Mit einem Lächeln begutachtete sie dessen lange Haare, die ihm wallend auf die Schultern fielen. Wie anders sah er jetzt aus! Als sie das Buch gerade wieder schließen wollte, fiel ihr Blick auf ein Bild auf der anderen Seite und weckte sofort die bösen Geister der vergangenen Nacht. Sie wollte nicht sehen, was sie dort sah, wollte die plötzliche Erkenntnis, die sie so zu keiner Zeit hätte haben wollen, mit all ihren Folgen fortschicken, wollte am liebsten in ein Erdloch versinken und niemals wieder auf dieser Seite des Globus’ auftauchen. Doch das Bild war da, die Gesichtszüge eindeutig zu erkennen, auch wenn hier ebenso wie bei Laurens die Frisur mehr einem Vorhang glich als einem Haarschnitt – es war Volker, der sie unschuldig als 19jähriger von dem Foto her anblickte!
Nein! Sie dachte immer nur: Nein!, merkte gar nicht, wie ihr empörtes Nein! zum artikulierten Schrei wurde, sie aufstand und das Buch fallen ließ. „Nein! Das kann nicht wahr sein!“ Ohne Besinnung griff sie nach allem, was in der Schublade war, und warf es an die Wand, dann trat sie gegen das Bett, dass ihr der Fuß schmerzte; sie fiel in sich zusammen, kniete vor dem Bett, drückte ihre Schluchzer in die Decke und hämmerte mit den Fäusten auf die Matratze ein.
Das Telefon läutete, sie ließ es läuten. Doch als es gar nicht enden wollte, fiel ihr ein, dass Yvonne sich melden wollte. Sie stand auf und unterbrach den drängenden Ton des Apparates, indem sie den Hörer aufnahm. Ihre Vermutung war richtig.
Yvonne zeigte sich entsetzt über die Entdeckung: „Marisa, du solltest überlegen, ob du nicht doch zur Polizei gehst! Du musst dich schützen! Du kannst doch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und abwarten.“
„Du hast doch selber gelesen, dass er sogar dich bedroht – ich kann das nicht zulassen!“
„Vielleicht blufft er nur!“
„Er hat mir immerhin eine Falle gestellt. Ich glaube kaum, dass er mit Volker meine Treue testen wollte. Er hatte von Anfang an geplant, mich auszunehmen! Jetzt weiß ich auch, warum er wegen des Ehevertrags so ein Geschisse gemacht hat.“
„Habt ihr den denn noch nicht unterschrieben?“, fragte Yvonne zaghaft.
„Nein! Es hat doch alles so lange gedauert. Die Sache mit dem Termin und so. Der Vertrag kann eine Minute vor der Eheschließung unterschrieben werden. Das macht gar nichts. Wahrscheinlich hat er deswegen alles hinausgezögert, damit ich genug Zeit habe für eine Affäre. Dieses Schwein!“ Sie schluchzte wieder. „Und jetzt weiß ich auch, warum er vor Wochen so abweisend war. Von wegen zu müde und so! Im Bett lief eine ganze Zeit lang nichts zwischen uns. Nach dem Motto: Sie muss doch scharf werden, wenn ich sie ganz kurz halte. Und ich dumme Pute fall darauf rein!“
„Beruhig dich, Marisa. Wir müssen wirklich Ruhe bewahren und nachdenken. Es gibt doch jetzt immerhin einen Vorteil: Du kennst deinen Gegner. Und das ist ein riesiger Vorteil. Und er weiß nicht, dass du es weißt. Richtig?“ Yvonne schwieg, bis Marisa zögerlich zustimmte, dann sprach sie weiter: „Also, als Erstes räumst du die Wohnung wieder auf, hörst du?“
Marisa schnaubte immer noch vor Wut, vor Scham, vor Hilflosigkeit. „Okay, das mache ich, aber ich muss einen Weg finden, ihn ins Leere laufen zu lassen.“
Sie räumte auf und währenddessen gewannen Nüchternheit und Distanz die Oberhand. Sie verschob die Grübeleien, obwohl sich die Frage, warum sie sich auf Volker eingelassen hatte, immer wieder in den Vordergrund drängte. Sie brach schließlich zusammen, als sie das aufgeräumte Zimmer begutachtete und ihr Blick an einem Foto hängen blieb, das sie und Laurens kurz nach der Rückkehr aus Kanada zeigte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, auf den Splittern des zerbrochenen Bildes, das ihr Leben gewesen war, zu stehen. Scherben von der verlorenen Liebe gesellten sich zur Erkenntnis, dass sie eineinhalb Jahre ihre nicht immer
Weitere Kostenlose Bücher