Dunkler Schnee (German Edition)
näherem Hinsehen aber verliert sich der Eindruck, sie atmet scharf aus, zieht ihren Schal fester und geht weiter. Schon nach wenigen Minuten kommt die Fischhalle in den Blick, Marisa sieht nach rechts und links und überquert die Straße. Ein schwarzer Van mit verdunkelten Scheiben rollt an den Straßenrand und hält. Ein eisiger Schreck fährt Marisa in die Glieder. Nichts anmerken lassen!, denkt sie, einfach weitergehen, ist sicher nur ein dummer Zufall. Sie beschleunigt ihren Schritt und blickt scheinbar ziellos nach hinten. Der Wagen steht am Rand; hinter seinen verdunkelten Scheiben ist kein Fahrer auszumachen. Sie geht in die Fischhalle, schwatzt mit ein paar Verkäufern, fühlt sich für Minuten fast wie eine normale Touristin und saugt neugierig die vielen Eindrücke in sich auf. Sie entscheidet sich für frische Haddock-Filets und lässt sich noch Zubereitungstipps geben, bevor sie die Halle wieder verlässt. Ein Blick auf die offene Straße beschert ihr ein Gefühl von ersehnter Leichtigkeit: Der Wagen ist fort. Gelöst zupft sie wieder ihren Schal zurecht und beginnt den Rückweg. Ich sehe schon Gespenster, denkt sie und versucht sich in Gelassenheit und Vorfreude auf ein entspanntes Abendessen. Beim erneuten Überqueren der Straße glaubt sie einen Faustschlag in ihren Magen zu spüren – sie bleibt unvermittelt, wie festgeklebt, auf der Fahrbahn stehen. Das dunkle Auto steht auf der anderen Seite!
Ein Truck donnert heran, hupt durchdringend, sodass Marisa endlich weitergeht, doch es ist ihr, als löse sich ihr Knochengerüst in den Beinen von Sekunde zu Sekunde immer weiter auf und übrig bleibe nur noch lose Muskelmasse, die sie hilflos auf den Asphalt sacken lassen wird; ein wehrloses Opfer, bereit zum Schlachten. Irgendwie schafft sie es, den rettenden Bordstein zu erreichen, bevor andere, wild hupende Autofahrer sie aufs Korn nehmen können. Sie kann nur noch schleichen, sieht sich ständig um, der Van wartet dort in ihrem Rücken wie die sprichwörtliche dunkle Seite, wie die nackte Gier und die nackte Bedrohung. Langsam vergrößert sich der Abstand zwischen dem Wagen und ihr, und langsam vergrößert sich auch wieder die Hoffnung, es möge alles nur ein ganz dummer, blöder Zufall sein! Sie fühlt in ihrer Tasche nach dem Hausschlüssel und ihrem Handy. „Ich bin nicht allein“, sagt sie beschwörend zu sich selbst. „Ich kann die Polizei anrufen und Adam, ich kann im Haus um Hilfe schreien. Ich bin nicht allein.“ Schon sieht sie den Hauseingang; ein letzter Blick zurück. Die Straße beschreibt einen Bogen, und der Abstand zum mutmaßlichen Beobachter ist so groß geworden, dass nur noch die Motorhaube des Wagens zu sehen ist. Mit zitternden Fingern, aber ohne Verzögerung schließt Marisa die Tür auf und flieht in das Treppenhaus. Sie lehnt sich erschöpft an die kalte Wand und verharrt mehrere Minuten. Dann erst kann sie den oberen Stock erklimmen.
Wenig später verstaut sie den Fisch im Kühlschrank, meidet die Fenster, die zur Straße zeigen, und räumt auf, was nicht aufzuräumen ist. Schließlich nimmt sie sich ein Herz und geht doch zum Fenster.
Der dunkle Van parkt genau gegenüber.
15. Yvonne
Marisa verbrachte den ganzen Samstag in Aachen. Yvonne und sie unternahmen mittags einen Stadtbummel und ließen sich von einem Barista verwöhnen; Marisa deckte sich mit Lebkuchen für die Eltern ein und die beiden Frauen beschlossen, das Auto aus dem Parkhaus zu holen und es auf dem Parkplatz eines Restaurants abzustellen, das wegen Urlaub geschlossen hatte. Als dies erledigt war, setzten sie sich nochmals auf einen Cappuccino in ein Café und schlenderten anschließend zurück zu Yvonnes Wohnung. Nach den Stunden des Plauderns und Besprechens, aber auch des Verdrängens, denn es gab glücklicherweise auch noch andere Themen, waren die Schreckgespenster zurückgewichen, und Marisa fühlte sich von ihnen nur noch aus der Entfernung beobachtet. Sie hatte nicht nur aufgrund des Briefes seit Tagen schreckliche Gewissensbisse gegenüber Laurens und nackte Angst, jemand möge tatsächlich ihren Fehltritt schamlos ausnutzen, da schaukelte noch die absurde Vorstellung, Laurens könnte eine dunkle Vergangenheit haben, wie ein Damoklesschwert über ihrem Haupt. Das lockere Auseinandersetzen all dieser Dinge mit Yvonne half ihr, einen klareren Kopf zu bekommen.
„Ich sitze das alles einfach aus“, sagte sie am frühen Abend zu ihrer Freundin. „Ich heirate, so wie geplant, gehe davon aus,
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