Dunkler Schnee (German Edition)
falls die Karre gestohlen wird.“
„Ich glaub, allein meine Existenz fordert zu Straftaten auf“, murmelte Marisa und setzte hinzu: „Galgenhumor, sorry.“
Sie huschten zum Hauseingang, als hätten sie was zu verbergen. Das Treppenhaus empfing die beiden wie ein dunkler Ruhetempel. Marisa fröstelte. Yvonne drückte den Lichtschalter. Summend und flackernd warfen runde Deckenlampen weißes Licht auf den Terrazzoboden.
Schnell wollten die beiden Freundinnen den Eingangsbereich verlassen und in die Wohnung eilen, als Yvonne stutzend auf den Briefkasten blickte. „Nanu? Ich hab doch heute Mittag schon die Post geholt.“ Ein weißer Briefumschlag stippte gut sichtbar aus dem Briefschlitz.
„Oh nein!“, entfuhr es Marisa und vor Schreck griff sie nach Yvonnes Hand. Yvonne zog langsam den Brief aus dem Schlitz, als könnte er durch eine schnelle Bewegung explodieren. Noch im Treppenhaus riss sie den Umschlag auf.
150.000 Euro
Wann und wo?
Gib Acht auf die Post!
Du hast genug Zeit, um Papi um einen kleinen Zuschuss zu bitten.
Und – keine Polizei!
Ach ja, wenn du Zicken machst … ich weiß ja nun auch, wo deine bezaubernde Freundin wohnt!
P. S. Damit Papi sich leichter überzeugen lässt: Schlechte Presse über seine einzige Tochter wird ihm sicher nicht gefallen, da er doch so ehrgeizige Pläne verfolgt …
16. Laurens
Laurens war nicht daheim, als Marisa am nächsten Vormittag erschöpft nach Hause kam. Sie hatte die Nacht auf Yvonnes Couch verbracht und kaum schlafen können. Immerzu waren ihr die Drohungen durch den Kopf gegangen, und sie hatte fürchterliche Angst bekommen, alles könne aus den Fugen geraten. Die Nacht war ihr wie ein Organismus erschienen, der als Albtraum daherkam und mit Pranken nach ihr griff. Alle zur Verfügung stehenden Wege, die sie aus diesem Dilemma heraus würde gehen können, formten sich unter dem Eindruck der Dunkelheit und der tickenden Wanduhr in ihrer Fantasie zu einem abgrundtiefen Loch, in das sie fallen würde. Der Morgen hatte kaum Linderung verschafft; die dunklen Bilder der Nacht verblassten nur ganz langsam.
Marisa machte sich Vorwürfe, durch ihren Besuch in Aachen auch noch Yvonne in diese Angelegenheit gezogen zu haben. Die ganze Rückfahrt über grübelte sie, was logischerweise der nächste Schritt sein musste. Doch im Auto war es durch das kaputte Seitenfenster so kalt und zugig, dass sich kein vernünftiger Gedanke festsetzte. Sie hatte sich am Vorabend entschieden, den Wagen in Köln reparieren zu lassen und keinen Notdienst in Anspruch zu nehmen – falls es für solche Dinge überhaupt einen Notdienst gab. Als sie daheim ankam und Laurens nicht vorfand, verstärkte sich wieder das bohrende Angstgefühl, das ihr zusätzlich noch Übelkeit verursachte. Sie spürte, wie es sich, da sie jetzt allein war, zur Panik ausweiten würde, wenn sie nicht akut etwas dagegen unternahm. Als Erstes versuchte sie herauszufinden, wo Laurens steckte, und rief ihn über Handy an. Er sei bei einem Hockeyspiel und würde erst am Nachmittag kommen. Er fragte nicht nach ihrem Befinden, nicht nach dem Auto, nicht nach Yvonne. Kühl und sachlich sagte er zum Schluss: „Wir sehen uns später.“ Kein „Schatz“, kein „Liebling“, kein „Ich vermisse dich“. Grübelnd ging Marisa in der Wohnung hin und her und kniete sich schließlich vor Laurens’ Kommode im Schlafzimmer, zog die Schubladen eine nach der anderen heraus und fing an, dessen Sachen zu durchsuchen.
Was tue ich hier, fragte sie sich zwischenzeitlich, wusste aber, dass sie spionieren musste, um den Verdacht, der sich gegen Laurens manifestierte, zunichte zu machen – oder zu erhärten. Sie wusste, dass unter seiner Unterwäsche und seinen Socken nichts verborgen sein konnte – zu oft räumte sie selber die Sachen nach der Wäsche in den Schrank. Aber die anderen Schubladen mit seinen T-Shirts und Sportklamotten waren hochvoll beladen. Sie nahm stapelweise die Shirts heraus, legte sie auf dem Boden ab und fand ein paar Schnellhefter auf dem Grund einer Schublade. Sie erkannte darin Unterlagen von der Ausbildung und diverse Zeugnisse von Laurens, weiter nichts. Marisa räumte alles wieder ein und begab sich an die nächste Schublade. Hier hob sie gefaltete Trainingshosen heraus, die Laurens schon lange nicht mehr trug, jedoch nicht entsorgen wollte. Darunter lagen alte Comic-Hefte, ein paar dünne Steckfotoalben, in denen hauptsächlich Postkarten steckten, und ein Jahrbuch von der Schule.
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