Dunkler Wahn
auf dem einige Kleidungsstücke lagen, ein Pflegebett und ein Nachtkästchen mit einer schlanken Blumenvase, aus der eine einzelne rote Rose ragte. Über dem Bett hingen zwei Bilder in Plastikrahmen. Beide zeigten Schutzengel, die über betenden Mädchen wachten.
Am Fenster saß eine Frau im Rollstuhl, deren Alter nur schwer zu schätzen war. Sie war vielleicht Anfang zwanzig, aber sie konnte ebenso gut auch Mitte oder Ende vierzig sein. Ihr dürrer Körper hing schlaff und verkrümmt in den beiden Gurten, die sie am Stuhl hielten. Die verkümmerten Hände lagen nutzlos in ihrem Schoß, und Jan musste beim Anblick der Finger an zerbrochene Bleistifte denken. An ihrem Hals konnte er eine Atemkanüle erkennen, von der aus ein transparenter Schlauch zu einem Beatmungsgerät führte, das an der Rückseite ihres Rollstuhls angebracht war. Offenbar hatte man an ihr eine Tracheostomie infolge einer Ganzkörperlähmung vorgenommen – einen Luftröhrenschnitt, der ihr das Sprechen unmöglich machte.
Ihm kam das Bild des englischen Astrophysikers Stephen Hawking in den Sinn, nur dass dieser im Gegensatz zu der Frau am Fenster ein menschliches Gesicht hatte.
Hingegen war Tatjana Harders Kopf völlig entstellt. Bis auf wenige blonde Haarbüschel war der unförmige Schädel kahl und mit vernarbten Wucherungen übersät, die die Spätfolge schwerster Verbrennungen sein mussten. Die linke Gesichtshälfte sah aus, als wäre sie gänzlich mit fleischfarbenen Wachsbrocken bedeckt, über die sich ein aufgeplatztes rotbraunes Muster zog. Der rechte Teil des Gesichts war zu einer hässlich grinsenden Grimasse verzerrt, aus deren Mundwinkel ein Speichelfaden auf eine umgebundene Serviette troff.
Tatjana sah Jan aus ihrem einzigen Auge an. Es war von einem derart hellen Blau, dass es beinahe farblos wirkte.
Dieses Auge war es, das Jan am meisten erschaudern ließ. Tatjanas Blick war anzumerken, dass sie sowohl erkannte als auch begriff, was sie sah.
»Das soll die Frau sein, nach der wir suchen?«, stieß Stark hervor.
»Zumindest ist das Tatjana Harder«, entgegnete Jan.
»Dann haben mein Team und ich wohl unsere Zeit vergeudet«, sagte Erler schroff. »Das wird ein Nachspiel haben, Stark. Darauf können Sie Gift nehmen.«
Er funkelte Jan und den Hauptkommissar zornig an und eilte ohne einen Gruß aus dem Raum. Noch ehe einer der beiden darauf reagieren konnte, war der SEK-Leiter bereits im Aufzug verschwunden.
»Hätte einer der Herren die Güte und würde mir erklären, was das alles zu bedeuten hat?«
Die Heimleiterin, die sich Jan im Aufzug als Maria Ostmann vorgestellt hatte, musterte die beiden Männer mit einem Blick, der zugleich Verwunderung und Empörung zum Ausdruck brachte.
»Woher wussten Sie, dass ich kommen würde?«, fragte Jan zurück.
»Ich wusste es nicht. Aber nachdem Sie ihr jede Woche eine Rose geschickt haben und nach all den Briefen, hatten wir gehofft, dass Sie sie auch irgendwann besuchen würden. «
Stirnrunzelnd betrachtete Jan die Rose, dann sah er Maria Ostmann an. »Welche Briefe?«
»Na, die Gedichte, die Sie Tatjana geschrieben haben.« Die Heimleiterin öffnete das Nachtkästchen und brachte einen Packen Kuverts zum Vorschein, der von einem Gummiband zusammengehalten wurde. »Tatjana hat sich so sehr gefreut und meine Mitarbeiterinnen ebenso. Sie haben sich fast darum gestritten, wer ihr vorlesen durfte. Kein Wunder, wenn eine Frau heutzutage noch Gedichte geschickt bekommt, dann höchstens als SMS. Sie müssen Tatjana wohl schon sehr lange kennen?«
Jan blätterte in den Briefen und traute seinen Augen nicht. Ihm war, als befände er sich in einem skurrilen Traum. In einer Handschrift, die seiner eigenen zum Verwechseln ähnelte, las er schwülstige Gedichte über die Schönheit der Welt, die Macht der Hoffnung und das Glück wahrer Liebe. Alle Briefe waren mit »Dein Jan« unterschrieben. Der letzte enthielt das Postskriptum »Bald bin ich bei Dir«.
»Unglaublich.« Jan zitterte, als er Stark die Briefe reichte. »Sie hat sogar meine Handschrift imitiert.«
»Dann sind diese Briefe nicht von Ihnen?«, fragte Maria Ostmann, als hoffte sie, Jan werde sich doch noch dazu bekennen.
»Nein, natürlich nicht.«
Er sah zu Tatjana. Ihr einzelnes Auge blinzelte heftig, und Jan erkannte Tränen.
»Es tut mir leid, Tatjana«, sagte er, dann wandte er sich Stark und der Heimleiterin zu. »Ich denke, es wäre besser,
wenn wir unsere Unterhaltung an einem anderen Ort fortsetzten. «
Sie gingen
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