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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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Ungnade zu fallen. Er selbst war zu sensibel, um das zu ändern, wohingegen Tatjana es gekonnt hatte. Also schlüpfte er kurzerhand in ihre Rolle, und plötzlich war er in der Lage, etwas zu tun, was er als Felix nie hätte tun können. Er tötete das Rind und löschte noch in derselben Nacht seine Familie aus.«
    Stirnrunzelnd steckte sich Stark eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und schüttelte den Kopf. »Aber das verstehe ich nicht. Angenommen, Sie haben Recht, warum sollte er dann seinen Stiefvater töten, an dem er so hing und den er beeindrucken wollte?«
    »Weil nicht Felix die Gasleitung manipuliert hat, sondern Tatjana. Oder vielmehr sein zweites Ich, das wie seine Stiefschwester empfand. Denn Tatjana war rasend eifersüchtig, wie wir erfahren haben. Er muss voll und ganz in dieser Rolle aufgegangen sein.«
    »Sie wollen mir also erzählen, dass er zu zwei eigenständigen Persönlichkeiten wurde und wie zwei unterschiedliche Personen dachte und fühlte?«
    »Nun ja, sicherlich gab es Überschneidungen«, entgegnete Jan, »immerhin handelte es sich ja nicht tatsächlich
um seine Schwester, sondern um seine unterbewusste Interpretation ihrer Persönlichkeit. Aber ansonsten denke ich schon, ja.«
    Schnaubend stieß Stark den Rauch aus. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber das klingt für mich einfach unglaublich. «
    »Sehen Sie«, sagte Jan, »eine solche Dissoziation ist im Grunde nichts anderes als eine Störung des Über-Ich, so dass das Es in manchen Situationen die Oberhand gewinnen kann – in Freuds Terminologie ausgedrückt. Dadurch können bisweilen verborgene Persönlichkeitsanteile in Erscheinung treten, die den Betroffenen wie eine fremde Person erscheinen lassen. Haben Sie mal Der Exorzist gesehen? «
    »Ich mag keine Horrorfilme«, verneinte Stark. »Mein Alltag ist blutrünstig genug. Vor allem in den letzten Tagen. «
    »Das kann ich verstehen«, nickte Jan. »Nun, auf jeden Fall gibt es in diesem Film eine Szene, in der die Mutter des besessenen Mädchens sagt, sie erkenne das Wesen nicht wieder, das im Bett ihrer Tochter liegt. Und das trifft es recht gut, wie man als Außenstehender eine dissoziative Persönlichkeit erlebt. Ehe man von solchen Störungen wusste, hatte man an dämonische Besessenheit geglaubt, an das Böse oder ein fremdes Wesen, das von dem Betroffenen Besitz ergriffen hatte. Tatsächlich ist es jedoch ein Kontrollverlust über die unterbewusste Triebhaftigkeit, die zu einer rücksichtslosen Enthemmung führt und unterschwellige Aggressionen freilegt. Etwas kommt nach außen, das überhaupt nicht zu der Person zu passen scheint, die man zu kennen glaubte.«
    Abermals runzelte Stark die Stirn. »Was bedeutet das in unserem Fall?«

    »In unserem Fall«, sagte Jan, »bedeutet das, wann immer sich der sensible Felix einer Situation nicht gewachsen sah, übernahm die impulsive Tatjana die Führung. Sie half ihm, mit seinen Ängsten und seiner Schüchternheit zurechtzukommen, da sie keine Skrupel kannte.«
    Stark schnippte seine Kippe weg. Wie ein rotes Glühwürmchen flog die Glut in hohem Bogen über den Zaun auf den regennassen Bürgersteig und erlosch. »Dann wusste er Ihrer Meinung nach also, was mit ihm los war?«
    »Ich denke schon«, nickte Jan. »Allerdings werden seine Persönlichkeiten jede direkte Konfrontation miteinander gemieden haben. Die dominante und aggressive Tatjana wird Felix unheimlich gewesen sein, und umgekehrt muss sie ihn für seine sensible Art verachtet haben. Andererseits konnten sie aber nicht ohne den anderen überleben. «
    »Und warum nicht?«
    »Ganz einfach«, entgegnete Jan, »Tatjana brauchte einen Körper, um zu existieren, und Felix brauchte Tatjana, die er für den Mord an seinem Stiefvater und seiner Mutter verantwortlich machen konnte. Immerhin wäre er sonst selbst ein Mörder gewesen, und an dieser Einsicht wäre er meiner Einschätzung nach sicherlich zerbrochen. Folglich werden sie in einer Art stillschweigender Symbiose nebeneinanderher gelebt haben.«
    »Sie meinen, seine beiden Persönlichkeiten waren wie das alte Ehepaar in diesem Simenon-Roman mit der Katze? Die beiden, die sich abgrundtief hassen, sich aber nicht trennen können?«
    »Ja, das kommt in etwa hin«, sagte Jan und war ein wenig überrascht. Er hätte Stark eher für einen Chandler-Leser gehalten.
    Stark atmete tief durch und nickte nachdenklich. »Was
meinen Sie, ist er deswegen Pfarrer geworden? Weil sein zweites Ich keine andere Beziehung zugelassen

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