Dunkler Wahn
fügte besorgt hinzu: »Um Himmels willen, ist Ihnen nicht gut? Sie sind ja bleich wie die Wand.«
»Nein, es geht mir gut«, log er. »Frau Badtke, Sie müssen mir einen Gefallen tun. Sagen Sie für heute sämtliche Termine ab und bitten Sie Diakon Liebmann, mich beim Gottesdienst zu vertreten. Ich muss etwas erledigen und werde nicht vor dem Abend zurück sein.«
»Aber …« Edith Badtke sah ihn mit großen Augen an. »Ist etwas passiert?«
»Ich kann es Ihnen nicht erklären, bitte tun Sie es einfach, ja ?«
Ihrem Blick war anzusehen, dass sie sich eine genauere Erklärung erhoffte, doch Thanner wich ihr aus und verließ den Raum. Er musste ein dringendes Telefonat führen.
Jetzt gab es nur einen Menschen, der ihm helfen konnte.
17
Nach dem Nachtdienst war Jan nach Hause gefahren und todmüde ins Bett gekippt. Die Aufregungen der letzten drei Tage und der unregelmäßige Schlaf, den der Schichtdienst mit sich brachte, hatten ihren Tribut gefordert. Doch am späten Vormittag erwachte er noch vor dem Klingeln des Weckers.
Jans Magen meldete sich lautstark, und ihm wurde bewusst, wie lange er schon nichts mehr gegessen hatte. Er warf einen Blick in seinen Kühlschrank, aber da war nicht viel zu holen. Seine Lebensmittelvorräte beschränkten sich auf die Überreste eines Mikrowellengerichts, ein Stück Pizza, ein angebrochenes Glas Oliven, einen Rest Butter und etwas Emmentaler, der eine bedenklich grüne Färbung angenommen hatte. Auch die Brötchen, die Rudi gestern zum Frühstück mitgebracht hatte, waren mittlerweile hart geworden.
Jan musste an seinen Freund denken, der jetzt unter der kanarischen Sonne weilte. Für Rudi, der als Kind noch die Nahrungsmittelknappheit der Nachkriegszeit miterlebt hatte, wäre es unvorstellbar gewesen, dass ein Kühlschrank nicht mindestens Essensvorräte für zwei Wochen enthielt.
Jan machte sich auf den Weg zum nahe gelegenen Supermarkt, um dem Missstand ein Ende zu bereiten. Heißhungrig schob er den Einkaufswagen durch die Regalreihen und lud ihn mit Lebensmitteln voll, während aus den Lautsprechern über ihm abwechselnd Musik und Ansagen für Sonderangebote dröhnten.
Als er schließlich die Kassenschalter erreichte, hatten sich dort zwei lange Schlangen gebildet. Doch im Gegensatz zum Wochenende, wenn dort ungeduldiges Gedränge herrschte, schien es heute niemand besonders eilig zu haben. Selbst die sonst so gehetzt wirkenden Kassiererinnen zogen die Waren geradezu entspannt über die Scanner. Einige der Kunden unterhielten sich über die beiden Themen, die Fahlenberg an diesem Tag beschäftigten: der Dauerregen, der zu einem bedenklichen Anstieg von Donau und Fahle führte, und natürlich der brutale Mord an Volker Nowak.
Supermärkte sind wie die Dorfplätze der modernen Zeit, dachte Jan und reihte sich in eine Schlange ein. Er griff sich eine Ausgabe des Fahlenberger Boten aus dem Zeitungsregal, und während es Stück für Stück vorwärtsging, las er den Hauptartikel, der sich mit dem Fall Nowak beschäftigte. Noch immer gab es nur Vermutungen, aber keine konkreten Spuren.
»Dr. Forstner! Na, das ist aber ein Zufall.«
Bettina stand hinter ihm und strahlte ihn an. Wie schon im Festsaal, als sie ihr elegantes Abendkleid getragen hatte, hätte er sie fast nicht wiedererkannt. Normalerweise trug sie ihr blondiertes Haar hochgesteckt oder zu einem Pferdeschwanz gebunden, doch nun fiel es ihr lang und offen über die Schultern des Regenmantels.
Sie deutete auf die Zeitung in Jans Händen. »Schrecklich, nicht wahr? Als ob es nicht schon genug Elend auf
der Welt gäbe. Hat man schon etwas Neues herausgefunden ?«
Jan schüttelte den Kopf. »Nein, sie suchen noch nach dem Mörder.«
»Es heißt, dass es eine Frau gewesen sein soll. Dabei kann ich mir das bei Volker gar nicht vorstellen.«
»Haben Sie ihn denn gekannt?«
Sie zuckte die Schultern. »Wie man’s nimmt. Meine Eltern wohnen nicht weit von ihm entfernt, und meine Mutter kennt Agnes Nowak noch von früher. Die beiden sind ein paar Jahre zusammen zur Schule gegangen. Ist aber schon lange her.«
»Und warum glauben Sie, dass es keine Frau gewesen sein kann?«
»Na ja«, sagte sie und wiegte den Kopf, »ich bin ihm öfter mal begegnet, aber ich habe ihn nie mit einer Frau zusammen gesehen. Also, zumindest nicht mit einer, die wie seine Freundin ausgesehen hätte.«
»Sie meinen, er war …«
»Schwul?« Sie sprach das Wort beinahe belustigt aus. »Nein, ich denke nicht. Eher ein wenig seltsam.
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