Dunkler Wahn
Er hat noch bei seiner Mutter gewohnt, wissen Sie. Dabei muss er doch schon Mitte dreißig gewesen sein. Das ist schon etwas merkwürdig, oder?«
Jan machte eine nichtssagende Geste. Natürlich war es seltsam, wenn ein Mann dieses Alters noch zu Hause bei seiner Mutter lebte, aber er hatte Volker Nowak viel zu wenig gekannt, um sich ein Urteil über ihn bilden zu können. Alles, was er über ihn gewusst hatte, war, dass Nowak ein strebsamer Journalist gewesen war, der mit seinen Artikeln inhaltlich und stilistisch zu fesseln wusste. Dabei war er nicht immer korrekt vorgegangen und hatte sich in manchen Punkten zu spekulativen Ausschmückungen hinreißen
lassen, wie Jan aus eigener leidlicher Erfahrung wusste, aber dennoch war er in seiner Berichterstattung fair gewesen – und nicht zuletzt beharrlich, was seine Recherchen betraf. Auch das konnte Jan bestätigen.
»Mit Frau Nowak muss irgendetwas nicht stimmen«, fuhr Bettina mit gedämpfter Stimme fort. »Ich habe sie zwar noch nie gesehen, aber meine Mutter sagt, sie sei sehr krank, und das nicht nur körperlich. Soviel ich weiß, geht sie seit Jahren nicht mehr aus dem Haus, und wenn, dann nur bei Nacht.«
»Das könnte durchaus eine Erklärung sein, warum ihr Sohn noch bei ihr gewohnt hat, denken Sie nicht?«
»Schon möglich«, entgegnete Bettina. Es kam wieder Bewegung in die Menschenschlange, und sie rückten ein Stück vor.
Jan legte seine Einkäufe aufs Band. Dabei dachte er über die Nowaks nach. Wenn die beiden ein so enges Verhältnis gehabt hatten, konnte es durchaus möglich sein, dass Nowak seiner Mutter erzählt hatte, warum er sich an jenem Abend mit Jan hatte treffen wollen. Denn diese Frage beschäftigte Jan nach wie vor.
»Wir sind jetzt übrigens fast Nachbarn«, holte ihn Bettina aus seinen Gedanken zurück.
»Wie bitte?« Mit Unbehagen stellte er fest, dass sie seine Einkäufe inspizierte.
»Wir sind fast Nachbarn«, wiederholte sie. »Ich bin umgezogen. Ist nur zwei Straßen von Ihrem Haus entfernt. Bleulerstraße.«
»Glückwunsch, das ist eine nette, ruhige Gegend.«
Er zwang sich, ihr Lächeln zu erwidern. Die Art, wie sie die Lebensmittel vor ihm auf dem Band betrachtete, kam ihm wie ein Eingriff in seine Intimsphäre vor. Aha, diesen Joghurt isst du also gerne. So so, die Nudeln aus dem Angebot.
Ach, argentinische Hüftsteaks, die waren bestimmt teuer. Und natürlich Dosenravioli in Fleischsoße. Typisches Junggesellenessen.
Sie blickte von seinen Einkäufen auf und seufzte. »Ja, schon, aber manchmal ist es etwas zu ruhig. Wenn alle Nachbarn nur Rentner sind, fühlt man sich da ziemlich einsam. Geht Ihnen doch bestimmt auch so, wo Frau Weller noch unterwegs ist. Vielleicht haben Sie ja Lust und kommen mal vorbei. Ich könnte Ihnen einen Kuchen backen. « Sie deutete mit dem Kinn auf den abgepackten Kuchen, den Jan aufs Band legte. »Einen richtigen.«
Wieder sah sie ihn mit diesem Blick an, der ihn schon auf der Klinikveranstaltung nervös gemacht hatte, und Jan musste an den Rosenstrauß denken. Hatte sie ihm etwa die Blumen zukommen lassen? Wäre es denkbar, dass …
Nein, dachte er entschieden, das war albern.
Doch nicht Bettina .
»Danke für die Einladung«, erwiderte er, »aber im Moment habe ich einfach viel zu viel Arbeit, um mich zu langweilen.«
»Na ja, ich dachte nur, weil Sie ja heute Ihren freien Tag haben.«
»Nein, heute passt es wirklich nicht. Ein andermal vielleicht. «
»Gut«, sagte sie, während die Kassiererin seine Einkäufe über den Scanner zog. »Das Angebot steht auf jeden Fall, Herr Nachbar.«
Als Jan den Supermarkt verließ, musste er wieder an den Rosenstrauß denken. Auch an das Bild und den Anruf.
Ohne dich schaffe ich es nicht .
Auch wenn er sich bei dieser Idee abermals einen Narren schalt, aber Bettinas Lächeln und die Art, wie sie ihm nachsah, gefielen ihm nicht.
Was hatte Franco gesagt? Diese Unbekannte würde mit aller Macht verhindern, ihr wahres Wesen zu zeigen.
18
Nachdem er seinen Heißhunger gestillt hatte, fuhr Jan zum Haus der Nowaks und hielt in einer freien Parkbucht auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Auf dem Parkplatz unmittelbar hinter dem Haus wären zwar noch einige Flächen frei gewesen, doch Jan hatte sich nicht überwinden können, dort zu parken. Die Erinnerung an Nowaks Leiche, die man aus seinem Wagen in den Plastiksarg gehoben hatte, war noch zu lebendig.
Jan stellte den Motor ab und sah durch die regennasse Seitenscheibe zu dem Haus hinüber.
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