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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wulf Dorn
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Taschenlampe.«
    Jan sah zum oberen Treppenabsatz hinauf. Dort stand eine große, hagere Gestalt, die sich mit beiden Händen am Geländer festhielt. Im schwachen Licht der Bodenleuchten waren nur die Umrisse der Frau zu erkennen. Sie deutete mit einer Kopfbewegung zum Garderobentisch.
    »Nehmen Sie die Lampe und kommen Sie hoch. Aber leuchten Sie damit nur auf den Boden.«
    Noch ehe Jan etwas erwidern konnte, machte sie kehrt und schlurfte davon. Das also hatte Bettina mit »krank, aber nicht nur körperlich« gemeint.
    Er nahm die Taschenlampe, die er im Dunkeln für eine Miniaturrakete gehalten hatte, und schaltete sie ein. Tatsächlich fühlte er sich gleich viel wohler, als der Lichtkegel in den Raum fiel.
    Er stieg die Treppe hinauf und folgte dem leisen Klappern von Porzellan, bis er Agnes Nowak in einem geräumigen Wohnzimmer wiederfand, das ebenfalls nur von Sockelleuchten erhellt wurde. Das Licht reichte gerade aus, um alles Notwendige zu erkennen – eine Couchgarnitur mit zwei Lehnsesseln, die aus den späten fünfziger Jahren stammen musste, eine mindestens ebenso alte Essecke, umringt von sechs Stühlen, zwei große Bücherregale
und eine Standuhr, deren gedämpftes Ticken den Raum erfüllte.
    In diesem Zimmer war der süßlich-medizinische Geruch noch stärker.
    »Möchten Sie Tee?«
    Agnes Nowak stellte eine zweite Tasse auf den Esstisch, stützte sich auf einer Stuhllehne ab und sah sich zu ihm um. Die hochgewachsene Frau bewegte sich unsicher und gebeugt. Ihre dürren Beine bildeten ein X, und es sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenknicken, wenn sie sich nicht setzte.
    Jan winkte ab. »Nein, danke. Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«
    »Natürlich möchten Sie Tee«, sagte sie bestimmt. »Kommen Sie schon. Setzen Sie sich. Und schalten Sie die Lampe aus. Das Licht im Zimmer muss genügen.«
    Jan stellte die Taschenlampe auf dem Couchtisch ab und ging auf Agnes Nowak zu. Nach Bettinas Schilderung musste sie Mitte sechzig sein, machte aber einen deutlich älteren Eindruck. Sie sah Jan aus dunklen, wachsamen Augen an, die in einem eingefallenen Faltengesicht funkelten. Es war ein interessantes Gesicht mit fragilen Zügen, das einstmals hübsch gewesen sein musste. Jan kamen die letzten Aufnahmen einer schwer kranken Audrey Hepburn in den Sinn. Hätte es eine Totenmaske der Schauspielerin gegeben – eine Totenmaske mit weit geöffneten Augen –, dann hätte sie Agnes Nowaks Gesicht sicherlich sehr stark geähnelt. Die Haut dieser Frau war unnatürlich bleich, was durch das schwarze Trauerkleid zusätzlich betont wurde. Es weckte den Anschein, als trüge sie ein wächsernes Make-up, und auch ihre strohigen Haare, die in dem schummrigen Zwielicht gelblich schienen, wirkten unecht.
    »Setzen wir uns«, sagte sie und ließ sich mit steifen Bewegungen
auf einen Stuhl sinken. »Ich bekomme nur selten Besuch, wissen Sie. Der Pfarrer kommt hin und wieder. Und die Pflegerinnen von der Sozialstation, natürlich, aber die sind kein Besuch.« Sie nahm den Deckel von einer gläsernen Vorratsdose mit Keksen. »Aber Gebäck habe ich trotzdem immer im Haus. Möchten Sie Gebäck? Natürlich möchten Sie Gebäck.«
    »Gerne.« Jan setzte sich ihr gegenüber.
    Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Wenn die Sie geschickt haben, können Sie es mir ruhig sagen.«
    »Nein, mich hat niemand geschickt.«
    Sie zwinkerte ihm zu und lächelte. »Sie wundern sich über die Dunkelheit in meinem Haus, habe ich Recht?«
    »Um ehrlich zu sein, ja.«
    »Ich will doch hoffen, dass wir ehrlich zueinander sind«, entgegnete sie und bedachte ihn mit einem abwägenden Blick. »Also, was die Dunkelheit betrifft … Als Arzt werden Sie bestimmt schon von EPP gehört haben.«
    »Erythropoetische Protoporphyrie?«
    Sie nickte, und die schlaffe Haut ihres Halses ließ Jan an eine Schildkröte denken. »Nur dass es weiß Gott nichts mit ›poetisch‹ zu tun hat. Wissen Sie, wie schlimm es ist, wenn man das Tageslicht nur noch aus Kindheitserinnerungen kennt? Wenn einem sogar eine gewöhnliche Glühbirne Schmerzen verursacht, bei denen man sich wünscht, es wäre bald vorbei? Nein, natürlich können Sie das nicht wissen. Aber vielleicht können Sie es ahnen.«
    Jan nickte verständnisvoll. EPP war eine äußerst seltene Stoffwechselstörung, die meist schon in früher Kindheit auftrat und bei den Betroffenen im Lauf der Jahre zu extremer Lichtempfindlichkeit führte. Bei fortschreitender Erkrankung vertrugen die

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