Dunkler Wahn
Es war das erste in einer Reihe von schlanken dreistöckigen Bauten mit gründerzeitlichen Fassaden, die hier dicht an dicht standen. Bei den meisten hatte der einstmals weiße Außenputz im Lauf der Zeit eine schmutzig braune Färbung angenommen, und auch das Haus der Nowaks hätte dringend einen neuen Anstrich benötigt. Im Mittagsgrau des verregneten Oktobertages sah es dunkel und ungastlich aus. In keinem der Zimmer schien Licht zu brennen, doch als Jan genauer hinsah, meinte er zu erkennen, dass dunkle Vorhänge vor den Fenstern hingen.
Jan hoffte, Nowaks Mutter würde es nicht als taktlos empfinden, wenn er sie so kurz nach ihrem schlimmen Verlust aufsuchte, aber die Frage, weshalb Volker ihn hatte sprechen wollen, beschäftigte ihn viel zu sehr. Und vielleicht konnte sie ihm einen Anhaltspunkt liefern.
Von wem hatte sich Nowak verfolgt gefühlt? Wirklich von der Drogenmafia? Und was hätte das mit der Bitte um Jans professionelle Meinung zu tun gehabt?
Jan stieg aus, wich vor einem vorbeifahrenden Lkw zurück, der eine breite Ladung Wasser über den Bürgersteig spritzte, und überquerte die Straße. Er sah an dem Haus hoch und hatte das eigenartige Gefühl, als würde das Haus auch ihn ansehen. Vielleicht war es aber auch nicht das Haus, sondern …
Wer? Wer sollte mich beobachten?
Er verscheuchte den absurden Gedanken und ging zum Eingang. Drei Stufen führten zum Haus hinauf. Rollstuhlschienen waren zusätzlich montiert, und Jan musste daran denken, was Bettina zu ihm gesagt hatte. Agnes Nowak sei krank. Und sie sei ein wenig seltsam.
An der Türglocke gab es kein Namensschild, ebenso wie es auch im Telefonbuch keinen Eintrag mit Nowaks Namen gab. Der Journalist mit der Vorliebe für brisante Themen hatte versucht, seinen Wohnort geheim zu halten. Im Haus seiner alten Mutter musste er sich sicher gefühlt haben. Ein tödlicher Trugschluss.
Jan drückte den Klingelknopf einer veralteten Gegensprechanlage und wartete. Keine Reaktion.
Vielleicht war Agnes Nowak nicht zu Hause? Aber Bettina hatte doch gesagt, dass die alte Frau nur bei Dunkelheit ausging. Also versuchte er es noch einmal, wartete wieder und sah auf die grauen Sprechschlitze. Nichts.
Gerade als er sich abwandte und wieder gehen wollte, ertönte hinter ihm ein elektronisches Knacken. Ein rotes Lämpchen an der Sprechanlage funkelte ihn an.
»Ja bitte?«
Die heisere Stimme einer Frau, zaghaft und misstrauisch.
»Frau Nowak? Mein Name ist Jan Forstner. Ich war ein Bekannter Ihres Sohnes. Tut mir leid, falls ich Sie stören sollte. Hätten Sie ein paar Minuten für mich Zeit?«
Kurzes Schweigen.
»Was wollen Sie?«
»Ich würde gerne mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen.«
»Sie sind dieser Psychiater, nicht wahr? Der aus dem Buch.«
»Hören Sie, falls ich gerade ungelegen kommen sollte, kann ich auch gerne ein anderes Mal …«
»Haben die Sie geschickt?«
»Wen meinen Sie?«
»Na, die Polizei.«
»Die Polizei? Nein.«
»Wirklich nicht?«
»Nein, ich komme, weil Ihr Sohn und ich am Dienstagabend verabredet waren und er …«
Das Summen des Türöffners unterbrach ihn, und die kleine Signalleuchte der Sprechanlage erlosch.
Jan betrat einen Flur, der fast völlig im Dunkeln lag. Nur aus dem Obergeschoss war ein schwacher Lichtschein zu erkennen. Es roch nach altem Holz, schwerem Teppichboden und etwas Süßlichem, das Jan an Schmerzsalbe denken ließ. Hier war ganz offensichtlich seit Jahren nicht mehr gelüftet worden, und auch wenn der Raum recht hoch war – was sich im Dunkeln schlecht abschätzen ließ –, ging etwas Erdrückendes von ihm aus.
Während sich die Eingangstür langsam hinter ihm schloss, tastete er die Wand nach einem Lichtschalter ab. Schließlich fand er ihn, doch als er ihn betätigte, leuchtete nur eine Lichtleiste entlang des Fußbodens auf. Sie führte durch den Flur und unterhalb der Schienen eines Treppenlifts zum Obergeschoss hinauf.
Noch während Jan nach einem zweiten Schalter für die Deckenlampe suchte, rastete die Tür hinter ihm im Schloss ein und schnitt den letzten Rest Tageslicht ab.
Es dauerte einige Sekunden, ehe sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Allmählich erkannte er einen antiken Garderobentisch und darauf eine Porzellanschale und ein längliches Objekt, das aussah wie das Miniaturmodell einer alten Saturn-Rakete. Neben der Garderobe stand ein batteriebetriebener Rollstuhl, auf dem ein Regenmantel lag.
»Auf dem Tisch finden Sie eine
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