Dunkler Wahn
hat.«
Bischof Hagen schürzte die Lippen und betrachtete seine über dem Bauch gefalteten Hände. »Wenn dem so ist, kann ich Ihnen nur den Rat geben, sie bei Ihrer nächsten Unterhaltung davon zu überzeugen, dass sie sich der Polizei stellen muss. Appellieren Sie an ihr Gewissen. Geben Sie ihr zu verstehen, wie sich eine gläubige Katholikin in dieser Lage verhalten muss. Nur wenn sie sich ihrer irdischen Strafe stellt, findet sie auch Vergebung vor dem Jüngsten Gericht.« Dann hob er mahnend den Finger. »Allerdings, mein lieber Felix, und das wissen Sie ebenfalls, dürfen Sie das nur dann tun, wenn die Frau das Thema von sich aus erneut anspricht.«
»Und wenn sie es nicht tut?«, fragte Thanner mit der Beharrlichkeit eines Mannes, der hoffte, es würde doch noch eine andere Lösung für ihn geben. »Was soll ich tun, wenn sie sich nicht darauf einlässt, wenn sie nicht auf meinen Rat hört? Oder wenn sie erst gar nicht wieder zu mir kommt?«
»Felix, Felix.« Der Bischof schüttelte den Kopf. »Aus Ihnen spricht Ihr jugendliches Heißblut. Jetzt denken Sie bitte erst einmal in Ruhe nach. Was haben Sie sich denn von mir erwartet? Dass ich Sie vom Beichtgeheimnis entbinde ? So viel Naivität hätte ich Ihnen nicht zugetraut.«
Thanner sprang von seinem Stuhl auf. »Naivität?«, fuhr er den Bischof an. »Irgendwo gibt es einen Mann, auf den es diese Frau abgesehen hat. Das hat sie mir deutlich zu verstehen gegeben. Wie soll ich damit umgehen? Wir können doch nicht nur die Täterin schützen. Man muss doch auch an weitere potenzielle Opfer denken. Soll ich das einfach ignorieren? Das kann unmöglich Gottes Wille sein, denken Sie nicht?«
Auch der Bischof erhob sich und straffte sich demonstrativ zu voller Größe.
»Nun hören Sie mir einmal gut zu, Felix«, sagte er sehr ernst. »Ich kann verstehen, dass Sie dieses Ereignis in einen Gewissenskonflikt gebracht hat. Aber ich will Sie noch einmal ermahnen, Ihre Kompetenzen nicht zu überschreiten. Das Beichtgeheimnis ist unantastbar . Es wurde geschaffen, um reuige Sünder zu schützen, die sich dem Herrn anvertrauen. Was Sie dabei zu hören bekommen und wie Sie selbst darüber denken, spielt keine Rolle. Sie haben sich zur römisch-katholischen Kirche bekannt und noch mehr: Sie repräsentieren sie! Bevor Sie sich also weiter im Ton vergreifen und womöglich gar noch Gott lästern, will und muss ich Sie daran erinnern, welche Aufgabe Sie übernommen haben. Wenn Sie sich damit überfordert fühlen, rate ich Ihnen zu einer Auszeit. Vielleicht sollten Sie in Exerzitien gehen und Ihre Sorgen dem Herrn anvertrauen ? Das könnte Ihnen sicherlich eine große Hilfe sein.«
»Nein«, widersprach Thanner energisch. »Ich werde mich doch nicht vor meiner Aufgabe drücken.«
»Halten Sie es, wie es Ihnen für richtig erscheint, Felix. Aber vergessen Sie dabei nicht, dass alles Weitere, was diese Frau betrifft, nicht in unserer , sondern in Gottes Hand liegt. Sie sind Pfarrer, kein Polizist. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Thanner spürte, dass er am ganzen Leib zitterte. »Aber dieser Mann … Es muss doch eine Möglichkeit geben, ihm zu helfen.«
Der Bischof nickte bedächtig und sah Thanner wie ein Oberlehrer an, der zu einem besonders begriffsstutzigen Schüler spricht. »Die gibt es, mein Sohn, und Sie kennen diese Möglichkeit.«
»Wie meinen Sie das?«
»Beten Sie für ihn«, sagte der Bischof und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. »Und beten Sie für das Seelenheil der armen Sünderin. Im Gebet liegt die Kraft, vergessen Sie das nicht. Im Brief an die Hebräer steht: ›Lasst uns voll Zuversicht hingehen zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit.‹ In diesem Sinn sollten wir auf den Herrn vertrauen. Und vor allem Sie, mein lieber Felix.« Er griff nach einer Unterschriftenmappe, die neben ihm lag, öffnete sie und sah noch einmal zu Felix Thanner auf. »Ich betrachte unser Gespräch damit als beendet. Nun gehe hin in Frieden.«
Zitternd stand Thanner vor ihm. Inmitten des großen Arbeitszimmers, das Platz genug geboten hätte, um darin einen Empfang zu veranstalten, kam er sich einsam und verlassen vor. Auch schien der unerträgliche Politurgeruch nur noch stärker geworden zu sein. Thanner hatte Sodbrennen, und sein Schädel pochte. Dennoch konnte er nicht gehen. Etwas in ihm – ein Gefühl oder eine Ahnung, ja, vielleicht auch die Stimme Gottes – hielten ihn davon ab.
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