Dunkler Wahn
gegenüber behauptet, dass sie einen Plan verfolgt. Aber aufgrund ihrer geistigen Verwirrtheit werden wir die Logik dieses Plans wohl nicht nachvollziehen können. Sofern man in diesem Fall überhaupt von Logik sprechen kann.«
»Ich weiß nur, dass dieser Plan etwas mit mir zu tun haben muss«, erwiderte Jan. »Diese Frau leidet unter einem Liebeswahn, der sich auf mich bezieht. Jede andere Frau in meiner Nähe ist für sie eine Art Störfaktor, den es auszuschalten gilt. Wie bei einer krankhaften Form von Eifersucht.«
»Dann könnte womöglich der Plan dieser Frau sein, eine Beziehung mit Ihnen einzugehen?«
»Nein, das glaube ich nicht«, entgegnete Jan mit einem Kopfschütteln. »Sehen Sie, Erotomanen leben in einer Art Illusion. Deshalb bezieht sich ein Liebeswahn in erster Linie auf unerreichbare Personen. Denn käme es zu einer realen Beziehung, wäre ihre Wunschvorstellung gefährdet, und die steht bei dieser Krankheit über allem. Darüber hinaus ist Erotomanie in der Regel nur die Folge einer anderen, deutlich gravierenderen Störung. In Janas Fall vermute ich, dass es sich um eine halluzinatorische Schizophrenie handelt. Und wenn es so ist, fußt das, was sie als ›ihren Plan‹ bezeichnet, auf einem Wahnkonstrukt, das wir in der Tat nicht nachvollziehen können. Zumindest nicht, solange wir nicht ihren biografischen Hintergrund kennen.«
»Na schön«, brummte Stark und rieb sich das stoppelige Kinn. »Aber da ist noch etwas, das mir nicht einleuchten will. Wissen Sie, gestern wurde uns eine Frau gemeldet, die durch ihr, nun ja, auffälliges Verhalten die Aufmerksamkeit von Passanten erregt hat. Wir haben sie schließlich in einem Waldstück aufgetan und dann an einen Ihrer Kollegen übergeben. Die Frau hat nichts mit unserem Fall zu tun, ich frage mich nur: Warum ist diese Jana ganz offensichtlich bisher noch niemandem durch ihr Verhalten aufgefallen? Jana muss Sie doch beobachten. Folglich hält sie sich irgendwo in Ihrer Nähe auf, und sie ist offenkundig schwerst gestört. So jemand fällt doch auf, oder? Ist Ihnen denn wirklich niemand verdächtig erschienen? «
»Natürlich, aber bisher hat sich, wie gesagt, jeder Verdacht, den ich hatte, als haltlos erwiesen.«
»Oder Ihren Nachbarn?«
»Mein direkter Nachbar ist zurzeit verreist.«
Stark nahm einen weiteren Schluck kalten Kaffee.
»Aber das ist doch seltsam, finden Sie nicht?«, fuhr er fort. »Bis auf Nowak und seine Mutter, die dieser Jana auf dem Friedhof begegnet sind, scheint sie niemand gesehen zu haben. Doch wenn sie kein Gespenst ist – und Gott bewahre mich davor, dass ich jetzt noch anfange, an Gespenster zu glauben –, muss diese Frau doch auch ein Alltagsleben führen. Sie muss irgendwo wohnen, sich Lebensmittel besorgen und so weiter. Dabei würde so eine Gestörte doch auffallen.«
Mit einem Schulterzucken stellte Jan seine Tasse ab. »Ich kann es mir nur so erklären, dass sie eine solide Schutzidentität haben muss, mit der sie ihre Störung vor ihrem Umfeld zu verbergen gelernt hat. In der Psychiatrie bezeichnen wir das als Coping. Denken Sie nur an den Amokläufer, der bis zu seiner Tat völlig unauffällig bleibt und von dem sein Umfeld im Nachhinein behauptet, man hätte ihm das nie zugetraut, obwohl sicher ist, dass er über lange Zeit psychisch gestört gewesen sein muss. Er wusste es eben nur gut zu verbergen.
Auch Jana wird eine Maskerade benutzen, die ihre wahre Natur nach außen hin verbirgt. Wahrscheinlich hat sie schon sehr früh gelernt, sich anzupassen, und im Lauf der Zeit immer weitere Bewältigungsstrategien entwickelt, um nicht aufzufallen.«
»Sie meinen, diese Frau ist so eine Art gespaltene Persönlichkeit? «
Jan wiegte den Kopf. »Ja und nein. Inwieweit es derartige Dissoziationen tatsächlich gibt, ist noch immer umstritten. Fragen Sie zehn Kollegen, und jeder wird Ihnen eine andere Antwort geben. Ich denke, das liegt in der Natur einer solch komplexen Störung. Man kann sie nicht wirklich nachvollziehen. Allerdings wäre es denkbar, dass sie sich für gespalten hält . Sie nennt sich Jana. Wie sie mir
zu verstehen gab, versucht sie, durch diesen Namen eine zusätzliche Gemeinsamkeit mit mir herzustellen, aber es könnte darüber hinaus auch eine Anspielung sein. Ein befreundeter Kollege hatte mich darauf gebracht. Jana könnte eine weibliche Form von Janus sein. Möglicherweise will sie damit auf ihre Zwiegespaltenheit hinweisen.«
Mit einem tiefen Seufzer lehnte sich Stark in seinem
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