Dunkler Wahn
noch einmal über alles nachzudenken. Es sei ein schwerer Schritt, sich zu stellen, hatte sie gesagt. Aber sie wisse freilich, dass sie nicht umhin kommen würde, sich der Konsequenz ihrer Taten zu stellen. Und auch wenn es anders gemeint gewesen war, als es für Thanner den Anschein hatte, hatte sie dennoch nicht gelogen.
Daraufhin hatte der Pfarrer erleichtert gewirkt und ihr nochmals seine Unterstützung angeboten. Als er dann endlich ging, hatte sie ihm versprochen, sich bei ihm zu melden.
Sie musste schmunzeln. Ja, er würde ihr helfen – aber nicht so, wie er dachte.
Ihr war klar, dass ihr jetzt nicht mehr viel Zeit blieb. Sie musste handeln, ehe dieser Weichling zusammenbrach und alles zunichtemachte. Lange würde er nicht mehr durchhalten, und dann würde er sie verraten, das hatte sie ihm angesehen. Er kam mit dem, was sie ihm anvertraut hatte, nicht zurecht. Schon allein die Tatsache, dass er sie besucht hatte, war ein deutliches Anzeichen dafür. Er war kurz davor, sein Schweigegelübde zu brechen.
Andererseits hatte sie ihn jetzt genau da, wo sie ihn haben wollte. Nun galt es nur noch, eine weitere Figur auf dem Spielbrett zu positionieren. Und dann, endlich, wären Jan und sie untrennbar vereint.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als Jan nun endlich aus dem Gebäude kam. Das lange Warten im kalten Auto hatte sich gelohnt. Es war, als hätte er gespürt, wie sehr sie sich nach seinem Anblick sehnte. Mit gesenkten Schultern, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet und die Hände in den Hosentaschen, kam er durch den Regen den Gehweg entlang.
Er war den ganzen Nachmittag bei dieser Carla in der Klinik gewesen. Das sah er wohl als seine Verpflichtung an. Wahrscheinlich plagten ihn Schuldgefühle, dass es keine andere Möglichkeit für sie beide gegeben hatte, dieses lästige Weibsstück aus dem Weg zu räumen.
Oder bedeutete Carla ihm vielleicht doch noch etwas? Wirkte er deshalb so niedergeschlagen?
Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. Es war egal, welche Rolle Carla noch für ihn spielte. Im Gegenteil, je mehr er für sie empfand, desto besser. Denn sollte ihr Plan wider Erwarten schiefgehen, würde ihr dies zusätzlich helfen, ihn für sich zu gewinnen.
Aber es würde nichts schiefgehen. Nein, alles lief genau so, wie sie es wollte. Gott war auf ihrer Seite.
Nicht mehr lange, Jan, dann wird mein Name dein einziger Gedanke sein . Bei Tag und bei Nacht. Bis in alle Ewigkeit .
60
Jan war auf halbem Weg nach Hause, als er es sich anders überlegte. Die Vorstellung, allein in seinem leeren Haus zu sein, war ihm unerträglich. Wie gern hätte er jetzt bei Rudi vorbeigesehen und mit ihm über alles geredet. Er vermisste seinen alten Freund, der jetzt auf den Kanaren seinen zweiten Frühling erlebte. Ein wenig Abstand zu allem hätte auch ihm gutgetan.
Jan hielt an einer Bar namens Vertigo, an der er schon Dutzende Male achtlos vorbeigefahren war. Was soll’s , dachte er. Es gibt immer ein erstes Mal.
Drinnen war es stickig und laut, aber das spielte keine Rolle. Hauptsache, er war unter Menschen. Er ließ seinen Blick durch die Bar schweifen, die im Stil der späten Fünfziger eingerichtet war. Erleichtert stellte er fest, dass er keine bekannten Gesichter entdecken konnte. Ihm war jetzt nicht nach Reden zumute.
Er fand einen freien Platz an der Theke, inspizierte die riesige Flaschenwand hinter dem Tresen und bestellte zur Verwunderung der Kellnerin gleich zwei Gläser Glenmorangie. Das erste leerte er mit einem Zug.
Der Whisky brannte in seiner Kehle, und Jan wünschte, er könnte damit die Wut und die Frustration aus seinem Kopf ätzen. Nach seinem Gespräch mit Stark war er wieder bei Carla gewesen, und es hatte ihm erneut beinahe das Herz gebrochen, sie in diesem Zustand zu sehen.
Seit sie aufgewacht war, hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Gestern hatte sie vor den Polizisten notdürftig ihre Aussage gemacht, doch heute verschloss sie sich hinter einer starren Maske. Auch auf seine Berührungen hatte sie nicht reagiert. Also hatte er sich an den kleinen Wandtisch gesetzt, auf dem ihr Mittagessen kalt geworden war, während sie vom Bett aus aus dem Fenster starrte. So hatten sie eine Ewigkeit miteinander geschwiegen, und irgendwann hatte sich Carla die Decke über den Kopf gezogen und war eingeschlafen.
Carla hatte nicht geweint. Sie hatte keinerlei emotionale Regungen gezeigt. Es war, als habe sie sich in ihr Innerstes zurückgezogen, weil dort der einzige Ort war,
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