Dunkler Winter
schmerzte, aber nicht mehr so stark.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht sehr gut. Der Bolzen hat die Lunge verletzt. Aber er wird es machen. Dauert bloß einige Zeit. Und der andere – Eumas, nicht wahr? – hat einen bösen Schnitt im Oberschenkel und einige andere Platzwunden und Schnitte. Er muss den Blutverlust wett machen, aber die Wunde ist jetzt genäht, und er wird durchkommen. Aber auch er wird diese Woche nicht rei ten. Was haben Sie getan, dass Sie die Unterirdischen so zornig gemacht haben?«
Eine seltsame Frage. Ich suchte nach einer Antwort, aber mein Kopf war benebelt. »Ich nehme an, Sie hielten uns für unbefugte Eindringlinge, obwohl sie vermutlich die ganze Zeit über wussten, dass wir uns in ihrem Reich befanden, und wir beschädigten nichts. Auch griffen Sie uns erst im letzten Augenblick an, sozusagen…«
Das war richtig, sah ich jetzt. Sie hatten gewartet, bis wir beinahe freigekommen waren, und dann war plötzlich das Dunkel in ihnen erwacht. Silvus hatte es gewittert, und vorher war es nicht dagewesen. Es war sonderbar; aber dann drang die Bedeutung ihrer Frage in mein benebeltes Gehirn und ich vergaß, wie sonderbar es war.
Die Unterirdischen, hatte sie gesagt. Nannte man die Kobolde hierzulande so? Wollte sie damit sagen, dass wir sie verärgert und den Angriff herausgefordert hatten? Dass es unsere eigene Schuld sei? Ich musste den auf kommenden Zorn unterdrücken. Glaubte die Frau viel leicht, wir hätten diesen mörderischen Kampf vorsätzlich angefangen? Sie musste verrückt sein… aber sechs Jahre Erfahrung in der Vernehmung von Bösewichten kamen mir zu Hilfe. Man darf niemals Missbilligung zeigen. Dann machen sie den Mund nicht mehr auf. Man stellt einfach eine nüchterne Frage, die ihnen das Gefühl gibt, dass man sie versteht.
»Sie scheinen – ah – eine freundliche Einstellung zu Ko bolden zu haben. Mehr als im Orden üblich ist.«
Tatsächlich stimmte ich in diesem Punkt mit dem Orden überein. Zwar erinnerte ich mich, wie hässlich Schwester Winterridges Gesicht gewesen war, als sie erkannt hatte, dass die kleine Bäuerin ein Kobold war, aber ich teilte ihre Abneigung. Vor meinem inneren Auge stan den noch die leeren roten Augen und blitzenden Klingen der Horde, die Ruane niedergemacht und uns alle bei nahe erledigt hätte.
Aber das Gesicht der Heilkundigen zeigte kaum eine Veränderung außer einem leichten Anheben der Augen brauen. Ich sah zu, wie sie ein handtellergroßes Stück bröckelnder brauner Rinde in einen Becher krümelte. Sie murmelte Anweisungen in einer fremden Sprache, und die junge Novizin musste sie verstanden haben, denn sie nahm den Becher und ging damit hinaus. Nun erst wandte die Frau sich wieder mir zu, legte den Kopf auf die Seite.
»Ach, der Orden. Ja, er hat für die Seinen zu sorgen, und deren Aufgabe ist es, das Dunkel in Schach zu halten. Was, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, keine leichte Aufgabe ist. Aber die Unterirdischen sind freund lich, wenn man sie gerecht behandelt. Selbst der Orden verschmäht es nicht, durch Vermittler mit ihnen ein wenig Handel zu treiben, obwohl die Schwestern lieber sterben würden, als es zuzugeben. Und für andere Leute gibt es überhaupt keinen Grund, mit ihnen zu streiten. Der Bauer, der eine Kanne Milch oder einen Sack Gers tenmalz auf einem Berghang hinterlegt, kann erleben, dass beides fort ist und sich dafür eine feine neue Klinge für eine Sichel oder eine Flasche Lampenöl an derselben Stelle befindet, wenn er am nächsten Morgen zurück kommt. Es geschieht die ganze Zeit, ganz gleich, was der Orden sagen mag.«
Die ruhige Gewissheit, mit der sie es sagte, verblüffte mich zuerst. Handel mit Kobolden? Scherzte sie? Ein Blick in ihr Gesicht sagte mir, dass sie es nicht tat.
Und wenn ich es recht bedachte, hatte ich mit eigenen Augen Hinweise gesehen, dass dieser Handel vor sich ging – und nicht nur Handel. Ihre Worte sickerten durch meine ungläubige Abwehr, und mit ihnen kam ein Gefühl wie von einem Durchbruch in meinem Kopf, und der Ge ruch von Lampenöl.
Lampenöl. Schwester Winterridges goldenes Feuer. Zum Gebrauch gegen das Dunkel, wohlgemerkt. Sie hatte ge sagt, dass die Kobolde es aus dem Gestein pressen würden.
Also schien es, dass die Kobolde ehrlichen Tauschhan del trieben und andere Leute nicht behelligten, und dass sogar der Orden für seine eigenen Zwecke mit ihnen Ge schäfte machte.
Die Heilkundige unterbrach meine Gedanken. »Was Sie betrifft, so mögen Sie
Weitere Kostenlose Bücher