Dunkler Zwilling
Aber vielleicht hat auch jemand gezielt ihr Handy geklaut und Maurice zur S-Bahn hinbestellt.«
Chiara sah auf. »Und die Polizei konnte nicht herausfinden, wer das gewesen ist?«
»Nein. Das Handy wurde danach nie wieder eingeschaltet.«
Chiaras Lippen zitterten. »Ich will nicht, dass das alles wieder von vorne losgeht. Hör auf damit, weiter nachzuforschen! Es nützt keinem!« Sie deutete auf die Briefe, die vor ihr lagen. »Viel wichtiger ist es doch, herauszufinden, wer von denen der Giftmischer war.«
Max’ Augen wanderten über die Briefe. »Auf wen tippst du?«
Chiara antwortete sofort: »Nummer eins, zwei oder Nummer vier.«
»Und warum nicht Nummer drei?«, fragte Max.
»Das ist etwas anderes«, sagte sie.
Es dämmerte bereits, als Chiara sich auf den Heimweg machte. Max’ Angebot, sie zu begleiten, hatte sie kurz angebunden abgelehnt. Sie hätte heute noch einiges vor. Der milde Wind trieb ihr feine Regentropfen ins Gesicht. Wie die dunklen Wolken im dämmrigen Winterhimmel zogen die Gedanken durch ihren Kopf. Mal lösten sie sich in kleine Portionen auf, mal ballten sie sich zu einem dicken Knäuel zusammen oder bildeten einen grauen, undurchdringlichen Teppich. Sie brauchte Klarheit und die würde sie sich verschaffen. Zunächst einmal auf eigene Faust. Max konnte sie später einweihen, dann, wenn sie wusste, wer hier eigentlich, welches Spiel spielte.
Der alte Köhler griff nach der Axt, die vor dem Gartenschuppen in einem Hackklotz steckte. Seine knochigen, von blauen Adern durchzogenen Hände umfassten den Holzgriff. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich der sorgfältig gestrichenen Holztür, die einen Spalt offen stand. Der Schlüssel steckte. Es war der Schlüssel, der sonst am Schlüsselhaken im Kellerabgang des Wohnhauses hing. Wer immer sich hier Zutritt verschafft hatte, der war auch im Haus gewesen!
Im Schuppen fiel etwas polternd zu Boden. Scherben klirrten. Eine Mädchenstimme fluchte. Köhler ließ die Axt sinken und trat ein. »Was um alles in der Welt machst du hier?«, schimpfte er und betätigte den Lichtschalter. Eine mit Draht vergitterte Deckenlampe flackerte auf und tauchte das Innere des Raumes in gelbliches Licht.
Chiara fuhr zusammen und hob den Kopf. Ihre dunklen Locken klebten wirr im erhitzten Gesicht. »Siehst du doch, ich suche etwas Bestimmtes.«
Köhler atmete geräuschvoll aus. Mit milderer Stimme fragte er: »Was suchst du denn? Kann ich helfen?«
Chiara klang nach wie vor aufgebracht. »Das Meerschweinchenhäuschen, das du mal für Michelle und mich gebastelt hast. Du weißt doch, es stand in dem Freigehege draußen. Es hatte sogar eine Tür, die man nachts mit einem Riegel verschließen konnte.«
»Hat nichts genutzt«, brummte Köhler. »Die Katze hat es trotzdem eines Tages aus dem Gehege geholt.«
»So habt ihr das Michelle erzählt. So war es aber nicht.«
Köhler sah auf. »Ach ja, und wie war es dann?«
»Maurice hat es mit Geros Kleinkalibergewehr abgeknallt.«
»So, hat er das?«, brummte Köhler.
»Ja, hat er«, fauchte Chiara. »Maurice war so blöd, mir das eines Tages auch noch stolz zu erzählen. Vielleicht hoffte er sogar, ich würde es Michelle verraten, nur um sie noch nachträglich damit zu quälen. Ein Quäler war er.«
»Über Tote redet man nicht schlecht«, sagte Köhler mit müder Stimme.
In Chiaras Gesicht entstand ein bitteres Lächeln. »Egal, was Maurice oder Gero angestellt haben, du hast sie immer gedeckt. Warum eigentlich?«
»Das bildest du dir ein, und jetzt komm endlich da heraus!«, forderte er.
»Nicht bevor ich dieses Häuschen gefunden habe«, entgegnete Chiara und machte sich weiter daran, die Regalbretter abzusuchen und Behälter und Geräte beiseite zu schieben.
Köhler hustete rasselnd, dann sagte er: »Ich habe es auseinandergenommen. Es liegt oben auf dem Regal.«
Chiara sah in die Richtung, in die Köhler mit dem Kopf gedeutet hatte und zog sich einen alten Gartenstuhl heran, um auf ihn drauf zu klettern.
Köhler trat einen Schritt nach vorne. »Nicht! So brichst du dir den Hals, Mädchen!« Er schob Chiara beiseite, klappte eine Leiter auf, erklomm zwei Stufen und nahm einige Holzteile vom obersten Regalbrett, die er an Chiara weiterreichte. Sie musterte eines nach dem anderen kritisch und legte sie neben sich auf dem Boden ab. Als Köhler die Leiter wieder weggeräumt hatte, stand Chiara vor ihm und hielt die hölzerne Giebelwand des Häuschens hoch. Eine kleine Tür klappte auf. Über dem
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