Dunkler Zwilling
Tür lag eine kleine Gestalt auf einer mit Blümchenkissen und Häkeldecken überladenen Couch. Sie schreckte hoch, als das Licht auf sie fiel. In ihren Ohren steckten Stöpsel und mündeten am anderen Ende in einem iPod, der auf der Bettdecke lag und von dem Max auf Anhieb erkannte, dass es ein teures Markengerät war.
»Justin!«, rief Max überrascht. Jetzt erkannte auch Chiara den Schüler aus ihrer Schule.
Justin zitterte vor Angst, aber Chiara gelang es, ihn mit freundlichen Worten zu beruhigen. Sie erklärte, dass sie auf der Suche nach einem Rückzugsort von Maurice seien. Dabei sah sie Max beschwörend an. An seiner Miene erkannte sie deutlich, dass er bezüglich Justin gerne etwas anderes erörtert hätte. Doch er verstand und ließ sie gewähren.
Justin bot ihnen Ravioli und Tee an. Beides köchelte auf einem uralten Küchenherd, in dem ein munteres Feuer prasselte. Justin legte dennoch Holz nach. »Das ist der Garten von meinem Opa. Er hat hier mehr gewohnt als bei uns in der Wohnung. Er hat geschrottelt und damit ein bisschen Geld verdient. Vor drei Jahren ist er gestorben. Er hat sich zu sehr aufgeregt darüber, dass sie ihm den Garten wegnehmen wollten. Aber ich bin immer noch hierher gekommen. Irgendwann habe ich Maurice davon erzählt. Er fand es sofort super hier, und ich habe ihm erlaubt, sich hier eine Ecke einzurichten.«
Chiara folgte mit den Blicken Justins Kopfbewegung und entdeckte einen kleinen Tisch unter dem Fenster neben der Eingangstür. Die Tischplatte war leer geräumt bis auf eine fein polierte Edelstahldose mit Stiften, an die sich Chiara aus Maurice’ Zimmer im Bentheim-Schlösschen erinnerte. Ihr edles Design passte so gar nicht hierher.
»Er war tatsächlich hier!«, flüsterte sie Max zu. Ihre Blicke suchten hektisch die Umgebung des Schreibplatzes ab. Neben der Tür an einem Haken hing eine Kapuzenjacke von Maurice.
»Seine Lederjacke habe ich Second-Hand verkauft«, erklärte Justin, der Chiara nicht aus den Augen gelassen hatte.
Sie schaute ihn herausfordernd an: »Ach, und sein Laptop wohl auch, oder?«
Justins Augen weiteten sich überrascht, dann nickte er stumm.
»Hast du überhaupt noch etwas von ihm übrig gelassen, du …«, rief Chiara schrill. Ihre Augen schimmerten feucht.
Justin zog den Kopf ein und deutete mit dem Finger hastig auf ein kleines Bord, das an der Wand über dem Tisch angebracht war. Dort befand sich ein unbeschrifteter Ordner. Er enthielt ungeordnete Papiere. Bei den meisten handelte es sich um unvollständige Ausdrucke, Grafiken und Bilder.
»Biologie«, erklärte Chiara, während sie den Ordner durchstöberte. »Lauter biologisches Zeugs. Man glaubt es nicht. Er hat hier gesessen und Bio gelernt.« Es gab handschriftliche Randbemerkungen. »Das ist Maurice’ Schrift«, erklärte Chiara und reichte einige Blätter an Max.
Seine Hand zitterte. Zum ersten Mal sah er etwas, das Maurice geschrieben hatte, und stellte mit einer gewissen Erleichterung fest, dass er selbst eine deutlich andere Handschrift hatte. Er räusperte sich und sagte: »Allerdings hat er lauter Sachen gelernt, die wir erst jetzt in der 10. Klasse haben. War er so ein Streber, dass er sich das Zeug zwei Jahre im Voraus eintrichtern musste?«
»Eigentlich ganz und gar nicht«, erklärte Chiara und nahm die Papiere wieder an sich. Mit nachdenklichem Blick blätterte sie die Seiten durch und las Überschriften vor: »Genetik. Aufbau der DNS . Mutationen. Erbgänge bei HD . Was ist HD ?«
»Das ist Hüftgelenksdysplasie«, antwortete Max sofort und erntete Chiaras anerkennenden Blick. Max erklärte beinahe entschuldigend: »Das steht so in Schorschs Stammbaum. HD -freie Zuchtlinie. Bei Hunden kommt es vor, dass sie zu flache Gelenkpfannen erben und dann kaum noch laufen können. Daher darf nur mit Hunden weitergezüchtet werden, bei denen durch eine Röntgenuntersuchung festgestellt wurde, dass ihre Hüftgelenke in Ordnung sind. Meinst du, Maurice befürchtete, das zu haben?«
Chiara las auf der Seite nach. »Hier steht, dass es erst im mittleren Lebensalter auftritt und dass es dann mehr als zehn Jahre dauern kann bis zur vollen Entfaltung der Symptomatik. Die nächste Seite fehlt. Hier kommt jetzt etwas über Zwillingsforschung.«
»Zwillingsforschung?«, schrie Max auf.
Chiara nickte und starrte ihn an. »Zwillingsforschung«, bestätigte sie. Ihr Blick fiel auf Justin, der zusammengesunken auf der Couch saß wie ein Gefängnisinsasse auf seiner Pritsche.
»Sag mal,
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