Dunkler Zwilling
von Bentheim das denn nie erzählt?«, wollte sie wissen.
»Nein. Aber bitte, können Sie es mir vielleicht erklären? Es könnte sein, dass es etwas mit Maurice’ Tod zu tun hat.«
Alexandra Meixner schüttelte sofort heftig den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Maurice war gesund. Sie hatten das testen lassen.«
»Was hatten sie testen lassen?«, fragte Chiara.
Alexandra Meixner bückte sich nach dem kleinen Kunststoffkoffer mit dem Putzzeug und sagte: »Komm, ich lade dich drüben ins Reiterstübchen ein. Dann erkläre ich dir die Zusammenhänge.« Sie richtete sich vor Chiara auf und fuhr fort: »Ich denke, du hast ein Recht alles zu erfahren, damit du verstehst, dass es mit dem Tod deines Bruders nichts zu tun hat.«
Beim Hinausgehen durch die Stallgasse kamen sie an Artos’ Box vorbei. Er stieß mit der Nase gegen das Türgitter und schnaubte anhaltend. Aus seiner Kehle drang ein fast gurrender Laut. Alexandra Meixner presste die flache Hand gegen das Gitter und lächelte sanft. »Siehst du, er kennt mich noch. Na, mein Guter, leider wird das nichts mehr mit uns.«
»Warum nicht? Meine kleine Schwester hat einen Terminkalender wie eine Managerin, da wäre es sogar gut, wenn er noch von jemand anderem bewegt werden könnte.«
Alexandra Meixner trennte sich mit traurigem Blick von dem Pferd und ging zügig weiter. »Das dachte ich auch. Doch Gero von Bentheim hat bereits abgelehnt.«
»Wie dumm«, kommentierte Chiara.
»Aber eigentlich vorhersehbar. Ich kannte ihn immer als Radierertypen.«
Chiara lachte auf. »Radierertyp«? Was ist denn das?«
Alexandra Meixner wandte sich mit schelmischem Lächeln zu ihr um: »So nenne ich Menschen, die Probleme lösen, indem sie sie einfach auslöschen. So nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Also, weg damit. Tabula rasa. Seine Ex- Frau war ein Problem. Also weg mit ihr und auch weg mit allen, die sie mal gekannt haben. Ausradiert. Dass sie vorletzten Herbst gestorben ist, hatte ich auch erst erfahren, als ich nach meiner Rückkehr in der Klinik anrief, um sie zu besuchen.«
»Sie kannten die Klinik?«
»Ja.« Alexandra Meixner blieb abrupt stehen und wandte sich dann zu Chiara um. »Moment mal. Jetzt verstehe ich erst die Bemerkung der Dame am Empfang. Damals hatte ich sie gar nicht ernst genommen. Ich hatte gedacht, dass sie etwas verwechselt haben muss. Sie sagte, dass die Patientin leider verstorben sei und dass ihr letzter Besucher im Juni 2011 ihr Sohn gewesen wäre. Wann starb dein Bruder?«
»August 2011.«
»Wäre es möglich, dass er herausgefunden hat, in welcher Klinik sie war und sie besucht hat?«
»Gero hat uns immer in dem Glauben gelassen, dass Maurice’ Mutter bei der Geburt gestorben sei. Ich weiß, dass Maurice vor seinem Tod einiges recherchiert hat, vielleicht auch das.«
»Das ist furchtbar!«
»Was ist daran furchtbar, wenn man seine Mutter endlich findet und sie besuchen kann?«
»Furchtbar ist, dass sie damals schon im Endstadium ihrer Krankheit war. Das muss eine grauenhafte Erfahrung gewesen sein. Dass er dann allerdings deswegen in einer Art Kurzschlussreaktion Selbstmord verübt hat, ist wiederum unwahrscheinlich, weil dazwischen ja fast zwei Monate lagen. Seltsam.«
Das kleine Lokal gehörte zur Reitanlage. Eine Wand war verglast und gab den Blick auf eine Reithalle frei, in der gerade eine Gruppe von Mädchen in Michelles Alter auf wackligen Pferderücken ihre Runden drehte.
Alexandra Meixner nippte an ihrem Kaffee. Dann schaute sie eine Weile bei der Reitstunde zu und begann so plötzlich zu reden, dass Chiara unwillkürlich zusammenzuckte. »Friederike hatte bereits erste Symptome, als wir uns hier in der Reithalle kennenlernten. Das muss so Mitte der neunziger Jahre gewesen sein. Damals war sie Anfang dreißig. Sie sprach von heftigen Kopfschmerzen. Anfallartig. Ich riet ihr zu allen möglichen Therapien, die es bei Migräne so gibt. Dann kam Vergesslichkeit dazu. Stimmungsschwankungen. Gefühllosigkeit in den Gliedmaßen. Ich befürchtete Multiple Sklerose und riet ihr dringend, das medizinisch abklären zu lassen. Sie ließ sich untersuchen. Negativ. Allgemeines Aufatmen. Doch die Symptome kamen immer wieder. Einmal sah ich, wie sie entnervt auf ihr Pferd einschlug. Da bot ich ihr an, das Tier zeitweise zu übernehmen. Ich sprach sie auf ihr unkontrolliertes Verhalten an, sie sagte, dass es bei ihr in letzter Zeit immer häufiger zu solch plötzlich auftretenden Wutanfällen gekommen sei, die
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